Tag 1: St.-Jean-Pied-de-Port – Orisson (23.05.2017)

St.-Jean-Pied-de-Port

Ich habe ganz gut geschlafen heute Nacht in meiner Hotelkammer. Die Zweifel von gestern Abend sind noch nicht verflogen. Möchte ich die Strapazen des Pilgerns überhaupt auf mich nehmen? In den vergangenen Monaten habe ich mir meine Weiblichkeit zurückerobert. Das stand unter keinem guten Stern. Eine unglückliche Liebe. Ein Mann, der sehr mit seinen eigenen Ängsten zu kämpfen hatte. Ich musste ihn mir aus dem Herzen reißen. Jetzt tut es immer noch weh, aber ich bin über 1.000 km von zu Hause entfernt und ich werde mich mit jedem weiteren Tag noch weiter von ihm entfernen.

Eigentlich, so denke ich, sollte ich meine Weiblichkeit feiern. Stattdessen werde ich nun wochenlang dieselben Sachen tragen: Wanderhose, T-Shirt, Stiefel. In diesem Moment überlege ich tatsächlich, ob ich nicht vielleicht stattdessen irgendwohin ans Meer fahren und einen Genuss-Urlaub machen sollte.

Die Zweifel verflüchtigen sich ein wenig als ich zum Frühstück gehe. Die Hotelwirtin ist eine Nette. Sie erzählt mir, dass sie noch nie auf dem Camino war, sie kommt ja nicht weg aus dem Hotel. Aber sie scheint ihre Arbeit zu lieben. Ich freue mich, dass ich meine Französisch-Kenntnisse mal wieder ausleben kann. Und ich genieße den Plausch mit ihr und meinen Café au Lait.

Als ich zum Bahnhof komme und in den Zug einsteige, wird mir Angst und Bange. Mir war klar, dass der Camino Francés sicher ein bisschen mehr überlaufen ist als noch in 2003 und 2006. Aber mit dieser großen Zahl an Rucksackträgern hatte ich nicht gerechnet. Das kleine Züglein ist voll besetzt. Auf der Stelle bekomme ich Panik, dass ich womöglich jede Nacht um einen Schlafplatz kämpfen muss.

In St.Jean-Pied-de-Port angekommen, finde ich leicht meinen Weg. Ich muss ja nur der unendlichen Schlange an Pilgern hinterherlaufen. Ich bin trotzdem erstaunt, wie sicher ich meinen Weg noch finde. Mir ist, als wäre ich gestern erst hier gewesen, dabei ist es schon 14 Jahre her.

Vor dem Pilgerbüro hat sich eine Schlange bis nach draußen gebildet. Während ich warte, versuche ich, die Herberge in Orisson anzurufenm und habe diesmal Glück. „Nein“, ein Bett hätte man nicht für mich, aber man könnte mich an einen anderen Ort fahren und dann am nächsten Morgen wieder nach Orisson bringen.“ Das hört sich gut an. Abgemacht! Während ich warte, komme ich mit Bill aus Michigan ins Gespräch. Es ist sein erster Camino. Und er ist sehr aufgeregt, auch weil er kein bisschen Französisch kann. Er fragt, ob er sich mir nachher anschließen darf, weil er auch noch nach Orisson möchte. Ich stimme erst mal zu.

Die Freiwilligen im Pilgerbüro machen einen tollen Job. Unermüdlich erklären sie in allen möglichen Sprachen immer wieder den Weg nach Roncesvalles. Den ängstlichen Pilger-Debütanten nehmen sie mit ihrer Freundlichkeit und ihrem Einsatz so manche Angst. Ich werde von einer Französin eingewiesen. „J’ai déjà mon truc“, sage ich ihr. – Und sie, nachsichtig lächelnd: „Ce truc, ma chère, c’est votre crédential“. Der Pilgerausweis ist mein wichtigstes Dokument auf dem Weg. Es erlaubt mir die Nutzung der Pilgereinrichtungen und Übernachtung in Herbergen für ein geringes Entgelt. Und in Santiago wird es der Nachweis sein, dass ich den Weg tatsächlich gegangen bin. Die Französin warnt mich eindringlich davor, oben am Paß nach links in den Wald zu gehen. „Egal, was passiert: Sie gehen dort nicht hinunter!“ – Ich sollte erst am nächsten Tag erfahren, wie wichtig diese eindringliche und lieb gemeinte Warnung war.

Ausgestattet mit Karte und Wegbeschreibung mache ich mich gemeinsam mit Bill auf die Suche nach etwas Essbarem. Ich will unbedingt bald los, hinauf zur 8 km entfernten Herberge von Orisson. Bill heftet sich mir an die Fersen. Er ist froh, dass er eine Übersetzerin gefunden hat. Die Restaurants sind komplett überfüllt, also kaufen wir uns ein frisch zubereitetes Sandwich und setzen uns am Ende der Brücke, die über das Flüsschen Nive führt, auf eine Treppenstufe. Lecker!

Ich habe Hummeln im Hintern und eigentlich möchte ich gerne allein los. Aber: Kann ich das einfach sagen? – Ich nehme allen Mut zusammen und sage Bill, dass ich nun gerne alleine los möchte. Er findet das in Ordnung. Und so verabschiede ich mich von ihm und gehe entschlossen los durch das Spanische Tor.

Die 8 km nach Orisson haben es in sich. Der Weg ist unglaublich steil. Und ich bin froh, dass es nur die kurze Strecke ist und ich mir diesen Teil für den nächsten Morgen erspart habe. Es ist wunderschönes Wetter. Sonnig, warm mit einem kleinen Lüftchen. Die Ausblicke sind jetzt schon phantastisch. Die grünen Bergrücken erinnern an schlafende Drachen. Und ich gehe weiter, immer weiter. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich 8 freie Wochen vor mir habe. Mein Herz hüpft vor Freude. Allmählich fange ich an zu vertrauen, dass alles gut ist. Ich muss mir keine unnötigen Sorgen machen. Ich freue mich, dass mein Körper sich so einfach den Berg hinaufschraubt, mit dem großen Rucksack.

Oben in Orisson angekommen, begrüßt mich Maria. Meine Fahrgelegenheit ist bereits unterwegs. Man wird mich in die Gîte Antton bringen. Lustig: Dort bin ich am Nachmittag schon vorbeigegangen. Es reicht gerade noch für einen Belohnungskaffee, da muss ich auch schon in den Transporter steigen. Mit mir fährt noch ein Italiener. Bill, der Amerikaner, sollte eigentlich auch mitfahren. Ich sage unserer Herbergswirtin Bescheid, dass er noch auf dem Weg ist. Gut, dass ich es sage. Sie hatten gar nicht mit ihm gerechnet. Sie wird ihn später abholen.

Der Tag klingt aus im Gîte Antton, mit W-Lan, sauberen Betten, mit der Aussicht auf ein gutes Abendessen und auch ein gutes Frühstück. An der gemeinsamen Pilgertafel kommen Menschen aus Italien, Deutschland, Holland, USA, Frankreich und der Schweiz zusammen. Menschen, die sich nie zuvor gesehen haben und doch so vertraut miteinander sind. Es braucht so wenig, um sich mit allen verbunden zu fühlen. Ein gemeinsames Ziel, mehr nicht. Dann ist es auch egal, woher Du kommst, was Du im richtigen Leben tust – ja, sogar, warum Du hier bist, ist eine völlig unspektakuläre Frage. Du suchst etwas, Du bist auf Deinem Weg. Das ist alles.

Ich unterhalte mich länger mit Rosa aus Freiburg. Sie ist auch allein, ohne ihren Mann, unterwegs. Das nimmt sie sich jedes Jahr für eine Zeitlang raus. Und diesmal hat sie richtig Zeit. Genau wie ich will sie den ganzen Weg bis Finisterra gehen. Für Marie-Lou, eine Schweizerin aus Genf, die bestimmt schon weit über 60, aber ein Energiebündel, ist es auch nicht das erste Mal auf dem Camino. Sie hat Haare auf den Zähnen, aber ein großes Herz. Drei Amerikanerinnen sind eher reserviert und schweigsam. Der Italiener, der mit mir gemeinsam den Shuttle-Bus hatte, ist, wenn ich es richtig interpretiere, der einzige an diesem Abend, der wirklich tief religiös ist. Um den Hals trägt er eine Kette, die ihn an seinen Weg nach Assisi erinnert. Als er davon erzählt, ist er sehr berührt, den Tränen nahe. Es ist eine bunte Gruppe an dem Abend und ich fühle mich sauwohl mittendrin.

Erst als ich im Bett liege, fällt mir plötzlich auf, dass ich allein mit sieben Männern in einem Raum schlafe. Im anderen Raum liegen sieben Frauen und ein Mann. Bevor ich panisch werde, mache ich lieber die Augen zu und schlafe auch zum Glück sehr schnell ein.

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