Gestern Abend gab es eine kleine Aussprache mit meinem Pilgerfreund Gorazd. Ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas zwischen uns steht. Wie sich herausstellte, war er aber einfach nur sauer, weil er wegen des überschwemmten Weges auf die Straße ausweichen und einen riesigen Umweg auf Asphalt in Kauf nehmen musste. Ich bin froh, dass wir die Missstimmung aus dem Weg geräumt haben. Immerhin sind wir seit dem ersten Abend auf der Vía de la Plata vor einem Monat gemeinsam unterwegs. Ein Abschied für die letzten zweihundert Kilometer wäre schmerzhaft.
Für meine Füße läuft es heute. Ich bin in guter Verfassung. Das ist auch notwendig, denn der Weg über den A-Canda-Pass nach Galizien ist mühsam und steil. Nach zweieinhalb Stunden ist es vollbracht und ich könnte schreien vor Glück, als ich den Grenzstein sehe. Es fühlt sich an wie ein Sieg, endlich Galizien zu betreten und Andalusien, die Extremadura und schließlich Castilia y León mit seinen eintönigen langen Geraden hinter mir zu lassen. Dreißig Tage Hitze, ohne Schatten, lange Strecken – all das liegt hinter mir. So viele Schmerzen und Wehwehchen, ja, sogar Tränen. Und nun habe ich es nach etwa 850 Kilometern in das grüne Land der Verheißung geschafft. Vor meinem geistigen Auge ziehen einzelne Wegstrecken vorbei, Erinnerungsschnipsel setzen sich zu einem Ganzen zusammen. Ich bin ein bisschen stolz auf mich.
Nach drei Stunden gelange ich nach Villavella hinunter. In der Bar wählt sich mein Smartphone von ganz allein ins WLAN ein. Hier war ich vor drei Jahren schon einmal. Von Villavella aus sind es noch einmal gut drei bis vier Stunden bis A Gudiña, und der Weg zieht sich nach dem schwierigen Pass. Er verläuft jetzt durch eine spröde Landschaft mit riesigen Felsbrocken auf von Natursteinmauern eingefassten Wegen. Es geht auf und ab, bevor endlich irgendwann, kurz nach dem Überqueren der Autobahn, endlich A Gudiña in Sicht kommt.
Heute bin ich von uns allen die erste, die das Etappenende erreicht. In der Apotheke besorge ich mir erst einmal Voltaren für meine gereizte Sehne. Danach steuere ich die neue Herberge an. Der Ort selbst ist gar nicht so hässlich, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Vor drei Jahren konnte ich die Nacht nicht in der Herberge verbringen, weil ich nur einen Seidenschlafsack dabei hatte und die Herberge keine Decken zur Verfügung stellte. Damals war es nachts bitter kalt und ich fühlte mich einsam. Heute erwartet mich ein schöner Rückzugsort und ich bin in guter Gesellschaft. Es scheint, meine Wahrnehmung der Umgebung ist abhängig genau von diesen zwei Kriterien: Unterkunft und (Camino-)Familie.
Die ganze Bande von gestern Abend schläft heute hier. Die Lobby der Pilgerherberge wirkt eher wie ein Hotel-Empfang. Überall stehen bequeme Sessel, sanitäre Anlagen und Küche sind hochmodern. Einziger Mangel: Es gibt keinerlei Geschirr.
Mit Gorazd teile ich mir heute eine Waschmaschine. Es ist bitter kalt geworden, an der Luft trocknen kommt gar nicht mehr in Frage. In den nächsten Tagen soll es sogar regnen. Ein Abschluss meiner Pilgerreise bei Sonnenschein wäre mir lieber, wo wir uns doch die ganze Zeit über in der Hitze so gequält haben. Nun ja. Der Camino ist kein Wunschkonzert. Und es ist wohl alles richtig so, wie es eben ist.
Heute vor fünf Jahren bin ich in Santiago angekommen. Morgen jährt sich der Todestag meiner Mutter zum fünften Mal. Während ich darüber nachdenke, bin ich auf einmal gedanklich im August beim Geburtstag meiner Mutter und damit auch bei dem Jahrestag ihres Cousins. Ich rufe ihn an, um ihm zu gratulieren. Zwei Monate zu früh. Oh ja, ich bin tatsächlich extrem entschleunigt.