Tag 2: Über den Berg Orisson – Roncesvalles (24.05.2017)

Vor der Marienstatue Vierge de Biakorri

Der Morgen beginnt mit einem gemeinsamen Frühstück in der Herberge. Ich hatte eine ruhige Nacht, kann mich nicht an Schnarcher erinnern. Offensichtlich habe ich als einzige Frau zwischen den vielen Männern voller Vertrauen wie ein Baby geschlafen. Ich fühle mich zu Hause.

Es gibt Baguette mit Butter und Marmelade, Kaffee und warme Milch. Mir ist bewusst, dass ein solches Frühstück noch vor dem Start auf dem Weg in Spanien eher selten sein wird. Ich genieße es darum um so mehr.

Die Herbergswirtin hält Wort. Um Punkt 7 Uhr stehen der Transporter und ein zweites Auto bereit, um uns wieder nach Orisson zu bringen. Endlich geht es richtig los. In Orisson herrscht reges Treiben. Die Pilger, die hier einen Schlafplatz ergattert haben, sind noch beim Frühstück. Ich schultere meinen schweren Rucksack und marschiere los. Freudestrahlend! Die ersten 600 Höhenmeter und den steilsten Teil des Anstiegs habe ich gestern schon geschafft.

Der blaue Morgenhimmel und der leichte Wind dazu versprechen einen phantastischen Wandertag. Ich erinnere mich an meinen ersten Camino in 2003. Damals, ebenfalls Ende Mai, empfingen uns die Pyrenäen mit strömendem Regen, dichtem Nebel, Graupelschauern, Schnee und Eiseskälte. Heute werde ich mit der allerschönsten Aussicht belohnt. Ich treffe die beiden dänischen Männer, die in Bayonne ebenfalls im Hotel de la Gare übernachtet haben. Wir witzeln ein bisschen über die fehlenden Trainingsmöglichkeiten für Bergtouren in Dänemark. Ich schwitze, aber ich bin ganz gut in Form und schraube mich den Berg hoch. Weiter oben begegne ich dem holländischen Paar aus dem Gîte Antton. Und noch ein Stück weiter treffe ich auf den Italiener Francesco, der sich keuchend vorwärts schleppt. Gleichzeitig mit ihm werde ich Santiago erreichen, aber das weiß ich da noch nicht. Francesco spricht nur Italienisch, meine Sprachkenntnisse sind da sehr bescheiden. Er scheint Gesellschaft zu benötigen, verwickelt mich immer wieder in ein Gespräch, das für mich mangels ausreichender Italienisch-Kenntnisse bei dem steilen Anstieg viel zu schwierig ist. Endlich kann ich mich loseisen und weitergehen.

Auf dem Paß in 1.400 m Höhe biegt der Weg von der Straße ab. Eine Gruppe Franzosen aus Bordeaux stellt gerade ihr Auto dort ab, um eine Tagestour zu unternehmen. „Wir haben es uns ein bisschen leichter gemacht!“ grinst der eine. Es sei ihnen gegönnt. Um nichts in der Welt wäre ich lieber mit dem Auto hierher gefahren. Die Franzosen möchten nach Roncesvalles und wieder zurück wandern. Am Ibaneta-Pass, wo der reguläre Weg nach links in den Wald abbiegt, treffe ich sie wieder. Von da sind es nur noch 3.6 km nach Roncesvalles. Allerdings erinnere ich mich an die eindringliche Warnung der Französin im Pilgerbüro. „Gehen Sie auf keinen Fall dort hinunter!“ hat sie mich gewarnt.

Aber alle gehen da runter! Nach rechts biegt auch ein Weg ab. Ich bin aber besorgt, dass der Weg nicht so gut ausgeschildert sein könnte. Ich habe Angst, mich allein zu verlaufen. Also frage ich die Franzosen, die eine detaillierte Wanderkarte dabei haben. Sie meinen, es wäre kaum weiter, vielleicht eine Viertelstunde. Ob der Weg ausgeschildert ist, wissen sie natürlich auch nicht. Ich frage die Pilger, die einer nach dem anderen im Wald verschwinden, ob sie nicht gewarnt worden sind. Aber niemand scheint das zu kümmern. 3.6 km scheinen sehr verlockend nach einem so langen Tag. Ein Ende ist in Sicht.

Ich bin hin- und hergerissen, bin verunsichert. Eine Stimme in mir sagt“Musst Du schon wieder alles anders machen als die anderen!?“ Vorwurfsvoll, tadelnd. – Ich beschließe, dieser Stimme nicht mehr zu folgen, weil sie mir nichts Gutes will. Und beschließe, ein Ich werde den Abzweig nach rechts wenigstens ein paar Minuten den Abzweig nach rechts zu nehmenlang folgen. Wenn es nicht ordentlich ausgeschildert ist, kann ich immer noch zurück. Aber schon nach fünf Minuten sehe ich, dass die Entscheidung richtig war. Unten im Tal liegt die Abtei von Roncesvalles. Ein Blick zurück zeigt mir, wie steil der Abstieg für die anderen sein muss. Zudem gehen sie durch den Wald und können nicht einmal die wunderschöne Aussicht auf die Abtei genießen. Ich bin froh, dass ich nicht mit so vielen Menschen auf dem schmalen Pfad nach unten klettern muss. Roncesvalles erreiche ich kaum später als die anderen, vollkommen entspannt und gut gelaunt.

Die Herberge von Roncesvalles wirkt auf mich sehr verändert.. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass wir damals nur noch Platz in der Notunterkunft in der alten Kirche bekommen haben. Es gibt Viererkabinen mit jeweils zwei Stockbetten. Bereits im Erdgeschoss wird man von Freiwilligen angewiesen, die Stiefel auszuziehen. Dann bekommt man den Weg zu den Betten, den Duschen und zum Waschraum gezeigt. Im Waschraum gibt es elektrische Wäscheschleudern, damit die Sachen schnell trocknen können. Alles ist sauber und ordentlich.

Erstmal duschen! Ich schaffe es recht zeitig zu den zwei Duschen, die wir auf unserem Stockwerk haben, und komme beim Warten ins Gespräch mit Lorena, einer jungen Schweizerin aus Schaffhausen. Sie will den Camino in fünf Wochen gehen. Ich halte das für sehr sportlich. Selber habe ich acht Wochen, rechne aber damit, dass ich etwa sechs bis sieben Wochen brauche.

Am Abend gibt es ein Pilgermenü. Wir werden alle auf drei Restaurants verteilt, die alle das gleiche Essen anbieten. Ich habe ein Ticket für das Restaurant „La Posada“ ergattert. Rosa sitzt mit mir am Tisch. Außerdem noch drei Männer im mittleren Alter, die seit Jahren immer eine gemeinsame Woche Urlaub auf dem Pilgerweg machen. Die drei kommen aus dem Saarland und sind in all den Jahren den ganzen Weg durch Frankreich bis hierher gekommen. Toll!

Das Essen ist einfach und schmeckt nach der anstrengenden Wanderung besonders gut. Ich fühle mich wohl. Einziger Sorgenpunkt: Halsschmerzen, die mich bereits seit Wochen immer wieder quälen, tief hinten im Rachen. Ein paar Hypochonder-Gedanken quälen mich: Was, wenn das was Ernstes ist? Es fühlt sich so seltsam an.

Aber ich halte mich nicht mit diesem inneren Negativ-Geschwätz auf. Es gibt so vieles zu sehen und zu erfahren. Der Camino bringt mich immer wieder auf die Menschen zurück. Draußen, beim Kaffee, treffe ich ein deutsches Ehepaar, die mit dem Wohnmobil unterwegs sind. Sie ist den Weg auch schon zu Fuß gegangen und beginnt zu strahlen, als sie davon erzählt. Da wird mir bewusst, was für ein Glück ich habe, hier zu sein.

Mein Blick fällt auf das Straßenschild: „790 km bis Santiago“. Darüber mache ich mir noch gar keine Gedanken. Ich freue mich einfach nur aufs Gehen, auf die Weite, die gute Luft, die Düfte der Natur, den Klang meiner Schritte auf den Schotterwegen. Ich bin jetzt schon im „Hier und Jetzt“. Glückselig!

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