Ist der Camino zu überlaufen?

Als ich 2017 zum zweiten Mal in meinem Leben mit dem Züglein von Bayonne nach St.-Jean-Pied-de-Port unterwegs war, hielt ich die Luft an. In den drei Waggons war kaum noch ein Platz frei, die Pilger standen dicht gedrängt und die Luft war stickig. Ich bekam schlagartig Panik, dass der ganze Camino eine einzige Massenbewegung sein würde. Es war später Vormittag. 2003 waren wir spätnachmittags mit diesem Zug unterwegs gewesen. Damals zählte ich etwa fünf bis sechs Rucksäcke in unserem Wagen. Über uns sah ich Geier kreisen und witzelte vor meinem Begleiter ein bisschen herum, dass wir womöglich irgendwo auf dem Weg in der Mittagsglut vor Schwäche und Einsamkeit selbst ein Opfer derselben werden könnten. Nun, vierzehn Jahre später, sah es eher so aus, als würde die Schlacht um einen Schlafplatz das alles überschattende, ständig wiederkehrende Ereignis werden.

Noch im Pilgerbüro schien mir diese Angst auf die Stirn geschrieben, denn die freundliche französische Hospitalera, die mir den Pilgerausweis zum ersten Mal abstempelte, sah mir fest in die Augen und versicherte mir ungefragt, dass ich auf dem Weg immer ein Bett zum Schlafen finden würde. Sie sollte recht behalten.

Im Jahr vor dem Corona-Ausbruch kamen 350T Pilger in Santiago de Compostela an, etwa zwei Drittel davon sind den Camino Francés gegangen; die meisten davon sind freilich erst in Sarria eingestiegen, um mit den letzten hundert Kilometern eine Compostela zu erlangen. (Zum Vergleich: 2000 waren es nur rund 55T Pilger, die sich die Compostela abgeholt haben. ). Es besteht also kein Zweifel. Der Weg ist voll. Voller Menschen mit Hoffnungen und Träumen und auf der Suche nach sich selbst oder nach Gott oder was auch immer. Menschen auf der Suche, genau wie ich selbst.

Ich muss vorausschicken, dass ich mich zu Hause niemals gerne dort aufhalte, wo man besonders viele Menschen antrifft. Für mich, die ich in einem dicht besiedelten Land lebe, ist es ein selten erfahrenes Privileg, mal draußen in der Natur niemandem zu begegnen und auch keine Zivilisationsgeräusche zu hören. Ich trotte auch nicht gerne wie ein Schaf einer Herde Gleichgesinnter hinterher. Aber ich ärgere mich über Sprüche wie „Ach Jakobsweg, das macht ja seit Hape Kerkeling nun wirklich jeder.“ Oder: „Niemals würde ich mich in diese Massen einreihen!“ – Warum ärgert mich das so? – Vermutlich hat es damit zu tun, dass diese Bemerkungen nicht aus gelebter Erfahrung sprechen.

Ich kann durchaus verstehen, dass man lieber einen einsameren Weg wählt. Das ging mir auch so, bevor ich zum ersten Mal auf dem Camino war. Genau wie viele andere war es für mich völlig klar, dass ich niemals zwischen all den schnarchenden Gestalten in einer Pilgerherberge schlafen würde. Allein, die Erschöpfung nach dem langen Tag führte mich immer wieder genau dorthin. Ich war schlicht zu müde, mir einen anderen Schlafplatz zu suchen. Die Hospitaleros verstanden, was ich nach der Anstrengung am dringendsten benötigte. Hier kümmerte man sich um meine einfachsten Bedürfnisse: ein Bett, ein Wasch- und Trockenplatz für die Kleidung, eine Möglichkeit zum Duschen, ein einfaches Essen. Und ich hatte Austausch mit anderen Menschen auf dem Weg.

Es war, wie so oft in meinem Leben. Erst beim Erreichen der eigenen Grenzen, körperlich wie mental, war ich bereit nachzugeben und die Dinge einfach auf mich zukommen zu lassen. Mit der Zeit lernte ich die Herbergen und die Menschen, denen ich dort begegnete, lieben. Das Teilen von Essen und Wein, das Teilen der Beweggründe für den Aufbruch auf einen Pilgerweg, mancherorts auch das gemeinsame Singen und schließlich auch das Teilen des Schlafsaals. All das gehört für mich heute unabdingbar zu meinem Weg und macht mich glücklich.

Früher war ich eine Wanderin auf der Suche nach Frieden in der äußeren Natur. Heute mache ich mich als Pilgerin auf die Suche nach Antworten. Ich habe aufgehört, Bedingungen an den Weg zu stellen, weil es einfach nicht funktioniert. Der Weg gibt mir eben nur das, wofür ich tatsächlich auch innerlich bereit bin. Ich bin nicht die Macherin, sondern einfach nur die Empfangende. Und letztlich begegne ich mir – auch im anderen – immer wieder selbst. Es ist sogar gut und wichtig, das geschehen zu lassen. Denn ohne ein Gegenüber, das mich spiegelt, habe ich keinerlei Orientierung für meinen eigenen Weg.

So funktionieren Pilgerwege. Ihr Kraftfeld wird aufgebaut von den Menschen, die genau diesen Weg seit ewigen Zeiten gegangen sind und immer noch gehen. Ohne dieses Kraftfeld geht es nicht. Wenn der Camino frei wäre von anderen Menschen und Pilgern, was hätte ich da wohl zu suchen?

Der Weg lebt allein durch die Menschen, die ihn gehen.

10 Kommentare

  1. …als ich die Überschrift las, dachte ich, was wäre wohl, wenn alle Menschen in ihrem Leben den Camino einmal gingen, es würde die Energie auf der Erde hier zu einem großen Maß verändern…und das stelle ich mir großartig vor…und dann kommst Du genau zu dem Schluss, den ich mir gewünscht habe…

    liebe Grüße!

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  2. Du schreibst genau das was den Camino ausmacht. Ich bin 2014 ziemlich blauäugig ab Leon losgelaufen und war erstaunt wie schnell man liebenswerte hilfsbereite Menschen drift.Ich hatte immer das gefühl , auch wenn kein Mensch inunmittelbarer Nähe war, das ich begleitet würde.Die Sehnsucht den Weg nocheinmal zu gehen läßt mich nicht los.Lg. Inge K.

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    1. Liebe Inge, da geb ich Dir recht. Man trifft immer hilfsbereite Menschen, auf dem Camino und auch sonst überall, wo man sich auf den Weg macht. Immer dann, wenn ich bereit bin, meine fest eingefahrenen Bahnen zu verlassen, bin ich verblüfft über all das Gute, das ich erfahre. Wir sind niemals verloren. Buén Camino! Katja

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  3. 2000 war ich zum ersten Mal auf dem Camino und das hat mich für mein ganzes Leben geprägt. Diese Stille, diese Gemeinschaft, immer wenn ich Hilfe brauchte, war jemand da, plötzlich. 2005 ging ich zum 2. Mal und wollte danach nie mehr auf den Frances zurück. Der Weg hatte sich verändert – oder war ich es ?
    Ich ging andere Wege, die Via Podiensis, die Via Francigena, den Primitivo, die via de la Plata, den Mozarabischen usw., manche 2 oder 3 mal. es waren alles tolle Wege, wunderbare Wege, voller Magie, Freundlichkeit, Gastlichkeit und Hilfsbereitschaft, aber mein erstes Mal….
    2018 bin ich, nach einem Versprechen, dass ich gegeben hatte, auf den Camino Frances „zurückgekehrt“ um die „cancer-cap“ meiner Tochter ans Ende der Welt zu tragen. Und der Weg hatte mich wieder, schon beim Aussteigen aus dem Zug. Ja, es waren einige Pilger unterwegs aber nicht so, als dass es das Gefühl des Überlaufenseins gegeben hätte, es war allerdings auch früh im Jahr, der Pass hatte erst am Vortag geöffnet. Vom ersten Tag an habe ich mich getragen gefühlt, getragen von der Kraft des Weges, getragen von allen Pilgern, die diesen Weg vor mir gegangen sind.
    Und ich werde ihn wieder gehen!

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    1. Danke für Deinen tollen ausführlichen Bericht. – Ja, ich glaube, wir erleben den Weg – und auch die unterschiedlichen Wege – bei jedem Mal wieder ganz individuell, je nachdem, was wir so mitbringen. Ich war auch bereits auf anderen spanischen – und auch deutschen – Jakobswegen unterwegs. Aber zu Hause fühle ich mich auf meinem allerersten Camino, dem Francés. Hier zieht es mich immer wieder hin. Vielleicht begegnen wir uns mal. Wer weiß?

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  4. Ich bin vergangenes Jahr zum zweiten Mal zu Fuß in Santiago eingelaufen. Beide Male war es absolut wunderbar und nicht miteinander zu vergleichen. Gerade die „Magie“ der Jakobswege in Spanien (und in bei meiner Wiederholungstat auch Portugal) macht das Pilgern dort so einzigartig. Wo sonst sitzt man abends mit einer Gruppe Fremder Menschen zusammen und erzählt sich gegenseitig Dinge, die man zu Hause bestenfalls seinen engsten Freunden anvertrauen würde?

    Es mag auch sicher so sein, dass die letzten 100km der Wege zu bestimmten Zeiten überlaufen sind. Ich habe es aber nicht so erlebt. Selbst Santiago empfand ich als nicht übervoll. Das mag sicherlich daran gelegen haben, dass ich zu den „richtigen“ Zeiten unterwegs war. Meinen Francés habe ich 2018 Mitte November beendet, den Português letztes Jahr Ende September unter dem Einfluss von Corona. Auch das Stück nach Fisterra bzw. Muxia war entspannt und entspannend.
    Ich glaube aber gerne, dass in der Camino Rush-hour, d.h. direkt nach Ostern und in den Sommermonaten wirklich zu viel los ist. An die Wettrennen um die Betten in den Herbergen will ich gar nicht denken…

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    1. Hallo Stefan, die Magie, die Du beschreibst – nämlich mit fremden Menschen echte Begegnungen zu haben – ist genau das, was mich auch immer wieder auf den Weg bringt. Soviel Vertrauen macht Mut und öffnet das Herz.
      Ich war bislang immer im Mai / Juni unterwegs und musste noch nie um ein Bett wettrennen. LG, Katja

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