Von Massip nach Conques

Trotz eines Verwöhnfrühstücks mit einer großen Variation hausgemachter Marmeladen und einer durchgeschlafenen Nacht bin ich heute früh in Katerstimmung. In Frankreich ist wegen der Erhöhung des Renteneintrittsalters ein Streik angekündigt. Das wusste ich auch zu Hause schon und hatte seit Tagen über die Gretchenfrage nachgedacht: Soll ich vor oder nach dem Streik nach Hause fahren? Zuerst noch zuversichtlich, dass die Heimreise nach dem Streik auch noch reicht, habe ich mich inzwischen umentschieden. Aber mein früher über die Connect-App gebuchtes TGV-Ticket lässt sich aus unerfindlichen Gründen nicht ändern und auch nicht stornieren. Vorsichtshalber habe ich ein neues Ticket gebucht. Ich werde einen Bahnhofsschalter aufsuchen müssen, um das alte Ticket zu stornieren und hoffe, dass es bloß ein technischer Fehler ist. Keiner der Franzosen hier kann mir die Frage beantworten, aber alle schimpfen sofort los und geben eigene unerfreuliche Erfahrungen mit der Bahn zum Besten, wenn ich nach ihren Erfahrungen frage.

Ich bin immer wieder erstaunt, wie ein solch kleiner Vorfall mich aus dem Hier und Jetzt des Pilgerinnendaseins herauskatapultiert und ärgere mich am meisten über mich selber. Und grüble weiter darüber nach, wo ich wohl frühestens einen geöffneten Bahnschalter antreffe. Decazeville, dachte ich zuerst. Doch der Bahnhof ist vier Kilometer von meiner Route entfernt. Acht Kilometer Umweg will ich nicht auf mich nehmen. In Decazeville bleiben kommt auch nicht in Frage. Wenn ich meinen französischen Pilgerfreunden glauben kann – und daran hab ich keinen Zweifel – dann ist Decazeville nicht gerade ein Ort, der zum Bleiben einlädt: Der Ort wurde wegen der Kohle- und Eisenvorkommen im 19. Jahrhundert gegründet und beherbergte Eisenhüttenindustrie und Gießereien. Ein herber Kontrast zu den mittelalterlichen Dörfchen an der Via Podiensis. – Ich werde also wohl weiter sinnlos weitergrübeln und nehme es als Chance, mich auch mit meinen nicht so geschätzten Eigenschaften anzufreunden.

Nach nur zwei Kilometern erreiche ich das Dorf Golinhac. Vor einem gemütlich wirkenden Herbergscafé treffe ich nach Tagen meine Pilgerfreunde aus Deutschland, Simon und Roberto, wieder. Hinter Nasbinals hatte ich sie wegen meiner Übernachtung abseits des Weges aus den Augen verloren. Die beiden warten auf den Bus, der sie nach Le Puy zurückbringen wird. Dort steht ihr Auto. Der Urlaub ist zu Ende und sie fahren nach Hause. Ich bin kurz versucht, sie zu fragen, ob sie mich mitnehmen, verwerfe das aber schnell wieder. Jetzt einfach abzubrechen fühlt sich falsch an. Ich belasse es also dabei, den beiden eine gute Heimreise zu wünschen und füge mich innerlich ein wenig grummelnd in mein Schicksal: Dauergrübeln bis Figeac. Dort wäre die letzte Gelegenheit, mit dem Pilgerexpress nach Le Puy zurückzufahren.

Immerhin hat mich die Begegnung mit Simon und Roberto ein wenig aufgemuntert. Die beiden erzählen mit strahlenden Augen von der Schönheit des Weges und ihren Erlebnissen und sind so beseelt von ihrer ersten Pilgererfahrung, dass ich meine kleinen Sorgen für einige Zeit loslassen kann.

Die Etappe über Espeyrac und Sénergues ist sehr beschwerlich mit zahlreichen steilen An- und Abstiegen. Während der letzten ein bis zwei Gehstunden verdunkelt sich der Himmel und kündigt das übliche Nachmittagsgewitter an. Conques erreiche ich mit den ersten Regentropfen über steiles Kopfsteinpflaster, das sich durch die Nässe in eine Rutschbahn verwandelt. Ich flüchte mich erst einmal ins nächstbeste Restaurant, wo ich noch eine „last order“ für ein spätes Mittagessen aufgeben kann. Glück gehabt!

Dann mache ich mich auf die Herbergssuche, komme allerdings nicht weit, weil ich direkt Axelle und Bertrand in die Arme laufe, mit den beiden hatte ich ein Zimmer in Espalion geteilt. Wir setzen uns nochmal auf ein Getränk. Das sehr gläubige, aber nicht dogmatische Pilgerpaar wird die Nacht in der Abtei bei den Möchen verbringen und auch zur Abendmesse gehen. Mir scheint, dass in Frankreich sehr viel mehr Menschen aus religiösen Motiven pilgern als in Spanien. Aber ich kann mich auch täuschen.

Ich habe habe mir ein Bett im Gîte Dali Chez François reserviert. Die noch recht neue Herberge ist in einem ehemaligen Gendarmerie-Gebäude untergebracht und umgeben von einem Garten. Von der Aussichtsterrasse aus erahnt man die Tiefe der Schlucht, durch die das Bächlein Ouche fließt. Nur ein kleines Stückchen weiter trifft die Ouche auf die Dourdou de Conques. Dort muss ich morgen hinunter und auf der anderen Seite wieder nach oben klettern. Aber darüber denke ich heute noch nicht nach, sondern mache mich vor dem Abendessen noch einmal auf, um den Ort zu erkunden.

Die Häuser von Conques ducken sich in die steilen Hänge. Die ehemalige Gendarmerie ist eines der wenigen, wenn nicht sogar das einzige neue Gebäude in diesem malerischen Örtchen, das von der Abtei Sainte Foy dominiert wird. Die engen Gässchen lassen immer noch Platz für Touristenparkplätze. Conques gilt als eines der malerischsten Dörfer Frankreichs und man fühlt sich automatisch ins Mittelalter zurückversetzt, zumindest wenn man sich die Parkplätze und die vielen Menschen wegdenkt. Dass sich die Häuserreihen bis ganz hinunter zur Schlucht ziehen und dass die Häuschen immer verwunschener werden, je weiter man hinunterkommt, erahne ich an diesem Tag noch nicht.

Das Abendessen bei François ist nicht ganz so üppig und gut wie es der Preis für die auf dem französischen Pilgerweg übliche Halbpension (Demi Pension) vermuten lässt. Es gibt Wurstteller, Kartoffelauflauf mit Wurst und Mousse au Chocolat, alles ein bisschen abgezählt. Das Frühstück besteht aus getoastetem Brot mit Marmelade und Kaffee mit kalter Milch. Mit neunundvierzig Euro ist die Übernachtung im Mehrbettzimmer für mich eine der teuersten auf der Via Podiensis. Aber wer würde da meckern angesichts der heimischen Preise? Ich halte es mit dem Spruch: „Der Tourist verlangt, der Pilger dankt“.

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