Es gibt wohl kaum einen Pilger auf dem Camino de Santiago, der nicht irgendwann einmal seinen Schatten im Bild festgehalten hätte. Denn jeder, der auf diesem Weg unterwegs ist, hat diesen hartnäckigen Begleiter immer dabei.
Der Pilger, der auf dem Camino Francés oder auch auf dem Camino del Norte unterwegs ist, bricht in den Sommermonaten frühzeitig auf und wird häufig mit spektakulären Sonnenaufgängen und blauem Licht belohnt. Und mit einem langen Schatten, den er stundenlang vor sich her trägt und der, je weiter sich der Lauf der Sonne dem Höhepunkt zuwendet, immer kleiner wird. An diesem Wendepunkt schließlich, wendet sich der nach Westen gehende, der Sonne zu und lässt den Schatten hinter sich.
Wo kein Licht ist, da gibt es auch keinen Schatten. Und wo kein Tag, da keine Nacht. Wir alle leben in der Dualität, das liegt in unserer Natur. Und deshalb ist es auch ganz natürlich, dass es im Leben auf und ab geht. Dagegen aufzubegehren bringt in der Regel nichts als Frust und Ärger. Es wäre so, wie wenn man den Lauf der Sonne selbst stoppen wollte.
Ein altes Sprichwort sagt: „Siehst Du einen Riesen, dann wende Deinen Blick nach dem Stand der Sonne. Es könnte der Schatten eines Zwerges sein.“ Meint nichts weiter: Solange wir nur den Schatten im Blick haben, werden unsere dunklen Seiten immer größer und mächtiger. Wenn wir nur die Sonne im Blick haben, dann scheint der Schatten verschwunden zu sein. Wenn wir aber den Schatten im Auge behalten und uns gleichzeitig dem Licht zuwenden, dann sehen wir klar. Es kommt also darauf an, welchen Blickwinkel wir einnehmen.
Mit dem tiefen Eintauchen in mein Dasein auf dem Camino wurde ich mir – manchmal schmerzlich, manchmal aber auch freudig – meiner dunklen Seiten bewusst. Nicht, dass ich sie gesucht hätte. Sie waren einfach da. Vielleicht wäre es mir zu Hause nicht gelungen, wahrhaftig in die Abgründe zu schauen. Aber auf dem Jakobsweg musste ich weitergehen, Schritt um Schritt mich mit der eigenen Unvollkommenheit aussöhnen. Mein Schatten war mir dabei willkommener Wegweiser, Begleiter und guter Freund.