Die meisten Menschen, die noch nie auf dem Camino in Spanien unterwegs waren, schütteln sich schaudernd bei der Vorstellung, mit wildfremden Menschen in einem Schlafsaal nächtigen zu müssen. Ich gebe zu: Mir ging das anfangs nicht anders. Bevor ich mich im Jahr 2003 zum ersten Mal auf den Weg gemacht habe, war das Übernachten in einer Pilgerherberge für mich absolut ausgeschlossen. Heute denke ich völlig anders darüber. Ohne die Begegnungen mit anderen Pilgern in den Herbergen wäre der Weg für mich längst nicht so lehrreich und erfüllend. Dass ich diese Art des Reisens kennen- und schätzen gelernt habe, verdanke ich ausschließlich dem Umstand, dass ich abends einfach immer viel zu erschöpft war, um mir eine „bessere“ Bleibe zu suchen.
Wir sind heute fünf Personen in der kleinen Herberge in Mombuey, die im Grunde nur aus einem Schlafsaal besteht mit angrenzendem Bad. Die Mikrowelle steht in dem Raum mit den vier Stockbetten. Fünf Personen, bunt zusammengewürfelt: ein spanisches Radler-Ehepaar, Gorazd aus Slowenien, Jan aus Deutschland und ich.
Meistens gelingt es mir auf dem Pilgerweg ganz gut, die Geräusche im Schlafsaal auszublenden. Aber heute ist um 3:35 Uhr an Schlaf nicht mehr zu denken. Das erste Mal werde ich durch ein Pfeifen aus Gorazds Ecke wach. Im Halbschlaf höre ich die spanische Radlerin in ihrem Bett schnarchen. Ich drücke meine Ohrstöpsel etwas fester an und rolle mich bis über die Ohren in meinen Schlafsack ein und döse wieder ein. Es dauert nicht lange, bis Gorazd, der sich offensichtlich schon seit Stunden quält und richtig sauer ist, alles Mögliche anstellt, um das Sägen aus dem Nachbarbett zu unterbrechen. Erst ruft er, dann versucht er es mit Musik aus seinem Handy, und wirft schließlich mehrmals hintereinander für einige Minuten die Mikrowelle an. Doch die Schnarcherin bleibt völlig unbeeindruckt. Um Viertel nach vier schläft außer der Radlerin niemand mehr in diesem Raum. Der Ehemann der Radlerin stellt sich vermutlich tot.
Um fünf Uhr verlasse ich gemeinsam mit Gorazd die Herberge. Von dem Feuer – dem Großbrand in der Sierra de Culebra – ist aktuell nichts mehr zu riechen, aber gestern Abend haben sie die letzten Dörfer hinter uns evakuiert. Es ist tiefschwarze Nacht. Die Nachrichtenseiten melden, dass der Brand noch längst nicht gelöscht ist, und die Einsatzkräfte in der Luft sind hörbar auch wieder unterwegs. Für mich steht fest, dass ich die ersten vierzehn Kilometer bis Asturianos auf der Landstraße gehen werde, denn der Pilgerweg führt erst einmal in Richtung Süden und damit in Richtung Feuer.
Gorazd schimpft und ist fürchterlich sauer, weil er kein Auge zugekriegt hat. Mir wäre wohler, wenn wir bis Asturianos gemeinsam gingen, aber er ist nicht dazu zu bewegen, die Landstraße zu gehen. So trennen sich unsere Wege nach einer Weile ohne ein weiteres Wort. Ich bin jetzt auch sauer auf ihn. Eine ganze Weile sehe ich durchs Gebüsch noch seine Stirnlampe leuchten, bis sein Weg schließlich nach Süden abzweigt. Ich hoffe, dass er einen sicheren Weg hat.
Die N-525 führt vierzehn Kilometer schnurgeradeaus. Es ist gespenstisch still. Ich schalte meine Stirnlampe aus, um Batterie zu sparen.
Was vierzehn Kilometer schnurgeradeaus bedeutet, realisiere ich erst, als ich nach einiger Zeit in der Ferne zwei Scheinwerfer aufleuchten sehe. Ich knipse meine Stirnlampe wieder an, damit der Fahrer mich sehen kann. Die Scheinwerfer verschwinden in einer Senke, tauchen wieder auf, verschwinden. Es dauert mindestens fünf Minuten, bis das Auto an mir vorüberrauscht.
Mein zweiter linker Fußzeh meldet sich bereits nach einer Stunde auf dem Asphalt. Ich nehme eine Schmerztablette und gleich noch eine. Nur für alle Fälle. Ich habe keine Lust, mich zu quälen.
Nach drei Stunden bin ich in Asturianos und fühle mich zum ersten Mal seit Tagen wirklich in Sicherheit. Jetzt erst spüre ich, wie sehr mich die Feuer in den vergangenen Tagen doch belastet haben. Mein Bauch meldet sich mit einem leichten Hungergefühl. Um acht Uhr hat am Sonntagmorgen noch keine Bar geöffnet. Ein Mann empfiehlt mir, es bei der Pilgerherberge zu probieren. Ich entschließe mich weiterzulaufen. Der Himmel reißt auf und gibt ein wenig Sonne frei. Es ist ziemlich kühl. Ich habe noch immer den Fließpullover an. Das hatte ich seit vier Wochen nicht.
In Palacio de Sanabria gibt es gleich zwei Bars. Die schönere der beiden hat noch zu, in der anderen wird bereits jetzt schon Alkohol getrunken. Offensichtlich eine Art „Stammtischbrauch“. Es ist neun Uhr morgens. Eine Tostada kann ich bekommen, entweder mit Butter und Marmelade oder mit Öl und Tomate, die in Spanien portioniert in marmeladeartiger Konsistent aus kleinen Döschen kommt. Nicht gerade eine Mahlzeit zum Sattwerden.
Seit Asturianos laufe ich nach Wochen auf Schotterpisten wieder auf sanften Trampelpfaden. Mein Fußzeh, noch immer betäubt durch die Schmerztablette, wird sich bedanken, wenn er aufwacht.
Der Weg kreuzt mehrfach die A-52. Von Otero de Sanabria fällt die Straße steil ab und gibt den Weg frei auf die Sierras. Die Luft ist gereinigt durch Wind und Regen. In Triufé wünscht mir eine junge Spanierin mit einem warmen Lächeln einen guten Weg.
Kurz vor Puebla de Sanabria überholt mich das spanische Radler-Ehepaar aus der Herberge von letzter Nacht. Beide lächeln verlegen und ein bisschen verschämt. Für einen Moment befürchte ich, dass die beiden auch die Herberge in Puebla de Sanabria ansteuern. Gestern sagten sie noch, sie wollten nach Lubián. Aber bis Lubián sind es noch etwa dreißig Kilometer, es ist bereits Mittag und ich kann mir kaum vorstellen, dass die beiden die Strecke über den Pass, noch dazu bei heftigem Wind, heute noch schaffen.
Bei der Ankunft in der Herberge Casa Luz in Puebla bin ich erleichtert; keine Fahrräder zu entdecken. Ich stoße die Haustür auf und blicke von der hellen Straße in einen dunklen Flur und sehe gar nichts, bis sich meine Augen nach Minuten an die plötzliche Dunkelheit gewöhnt haben. Der Hospitalero holt mich ab und lässt mich erst einmal ein DIN-A4 Anmeldeformular ausfüllen, bevor er mir die Räume zeigt. Sehr gesprächig ist er nicht. Aber die Herberge ist ordentlich, sauber und gut geführt. Es gibt richtige Bettwäsche, was für jeden Pilger immer ein Highlight ist, eine Küche, einen Innenhof und ein sehr feines Bad. Nur der kranke Pilger im Bett an der Wand irritiert mich. Seltsam. Seit vier Wochen habe ich mir über Corona keine Gedanken gemacht.
Ich dusche und beeile mich, zum Einkaufen in die Stadt zu kommen. Puebla de Sanabria, das weiß ich von meiner Tour in 2019, ist ein eher touristischer Ort und einige Geschäfte haben auch sonntags geöffnet. Damals war ich mit dem Zug aus Sarria angekommen, hatte in einem Hotel genächtigt und fühlte mich – noch – wie eine Pilgertouristin. Heute, nach rund 800 km in den Beinen, sieht das schon ganz anders aus.