Tag 30: Puebla de Sanabria – Lubián (20.06.2022)

Dieser Pilgerweg, genau wie mein Leben, folgt seinen eigenen Gesetzen. Nicht nur, dass ich keinen Einfluss auf die Beschaffenheit des Weges habe. Auch emotional rüttelt und schüttelt mich der Weg durcheinander, bringt längst vergessen Geglaubtes zutage, Trauer folgt auf Freude folgt auf Schmerz; und im nächsten Moment scheint alles wieder ruhig, so wie ein Bach friedlich murmeld dahin plätschert. Mein heutiger Tag ist geprägt von Erinnerungen aus dem Jahr 2019, als ich in Puebla de Sanabria gestartet war, nachdem ich mich von meinem Freund Keith aus Texas am Bahnhof von Ourense auf Wiedersehen verabschiedet hatte. Wir waren damals eine Woche gemeinsam von Astorga nach Sarria gepilgert. In Ourense trennten sich unsere Wege. Er fuhr zurück nach Santiago, um in die USA zurückzukehren. Und ich hatte zwei Wochen für den Camino Sanabrés. Zwei Wochen, in denen ich mich intensiv mit meiner 2017 verstorbenen Mutter auseinandersetzte, auch deshalb, weil ich sehr viel mit mir allein war. Zurückgeworfen auf mich selbst, begann ich, mich mit meiner Mutter zu unterhalten. Wir kamen uns damals so nah wie kaum jemals zuvor.

Genau wie 2019 verlasse ich auch heute das Haus im Dunkeln, nach einem Frühstück aus pre-cooked Reis und Obst. Ich bin überrascht, wie deutlich ich mich an den Weg vor drei Jahren erinnere und wie meine Erinnerung manchmal auch trügt. Damals sah ich beim Auszug aus Puebla de Sanabria eine Rehmama mit ihrem Kitz auf der Wiese äsen. Nicht nur deshalb kam mir meine Mutter in den Sinn. Damals gab es außer mir an diesem Morgen noch ein paar Pilger, denen ich einfach nur hinterhergehen musste. Heute bin ich allein und treffe auch über lange Zeit hinweg niemanden. Auf der Straße, die nach Requejo führt, verpasse ich deshalb gleich am Anfang den Weg zum Fluss hinunter.

Die Iglesia de Santiago de Terroso passiere ich heute, ohne die Glocke zu läuten. Damals konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und war über den lauten hohen Klang im ersten Moment erschrocken. Damals war es mir nicht bewusst, aber heute sehe ich, dass ein Friedhof zur Kirche gehört. Auf keinen Fall möchte ich die Toten wecken. Sie sollen friedlich weiterschlafen.

Im Ort kommt ein Einwohner, der sehr in ein Gespräch mit sich selbst verstrickt ist, auf mich zu und möchte offensichtlich seine Gedanken weitertragen. Mir ist nicht nach Reden, schon gar nicht nach Monologen, so grüße ich ihn freundlich und suche das Weite. Die Autobahn überquere ich mit gemischten Gefühlen. Vor drei Jahren endete der Weg durch den Wald hinter der Autobahnquerung in einem Sumpf, in dem ich knöcheltief feststeckte. Heute ist die Beschilderung genauer, offensichtlich gibt es hier einen zuverlässigen Wegpaten, der sich des Problems angenommen hat. Ich bleibe also weder stecken, noch verlaufe ich mich. Und so komme ich trockenen Fußes nach Requejo, hole mir in der Kirche einen Stempel und betrete wenige Meter weiter die Bar.

Damals hatte ich hier eine schöne Pause Der Wirt war freundlich, der Kaffee schmeckte und ich hatte eine wirklich nette Unterhaltung mit einer E-Bikerin, die mit 58 Jahren von irgendwo in Deutschland nach Valencia ausgewandert war. So alt wie ich heute. Heute ist die Gastfreundschaft eher bescheiden, die Frau hinterm Tresen muffig, der Kaffee … na ja. Ich halte mich nicht lange auf und schultere meinen Rucksack. Der Weg über den Pass, die Portilla de Padornelo, steht mir noch bevor.

Vor drei Jahren musste ich hier neun Kilometer an der – zugegebenermaßen sonntags wenig befahrenen – Nationalstraße entlang. Doch die Wegführung scheint geändert. Den ganzen Weg bis hinauf Richtung Tunnel gehe ich durch den Wald. Irgendwann ist Schluss für mich. Der Weg führt über einen Bach, der für einen Sprung zu breit ist. Über die glitschigen Steine traue ich mich nicht, es scheint mir zu unsicher. Also entscheide ich mich für eine Alternative, die mich links der Eisenbahn und der Autobahn steil den Abhang hinauf führt. Ganz am Anfang sehe ich noch irgendwo einen gelben Pfeil, doch dann gibt es für mindestens eine Stunde kein Zeichen. Nur einen schmalen Pfad, auf dem mir Wasserrinnsale entgegen fließen. Ich komme ins Schwitzen, nicht nur wegen des steilen Weges, sondern auch, weil ich befürchte, mich völlig verlaufen zu haben.

Erst nach etwa anderthalb Stunden stehe ich auf grüner Wiese und vermutlich auf dem Tunnel. Der Blick ins nächste Tal ist noch nicht frei, es geht weiter bergauf, bis der Pfad nach einiger Zeit auf eine Straße münde und die Sicht freigibt auf das Cruz de la Portilla und auch einen lang ersehnten Wegweiser. Der kalte Wind setzt mir zu, am Himmel stehen dunkle Wolken, und ich beeile mich, in den Ort hinunter zu kommen, wo es eine Bar gibt. Damals hatte ich dort einen riesenhaften Käseteller und ein Bier, heute gibt es Kaffee, Mandelgebäck und eine Kas de Limón. Der Laden, zu dem die Bar gehört, ist sehenswert. Es gibt spanische Spezialitäten, natürlich Wein, auch Schinken. Für diejenigen, die es mögen, mit Sicherheit mal einen Abstecher wert, weil der Laden auch absolut einladend fürs Auge ist.

Etwa einen bis zwei Kilometer hinter Padornelo zweigt der Weg endlich von der N-525 nach rechts ins Grüne ab, es geht viel steil abwärts auf schönem Naturpfad, der irgendwann in einen reißenden Bach übergeht. Ich bin froh um meine festen Wanderstiefel, die sich hier als die gute Wahl entpuppen. Gorazd wird mit seinen leichten Halbschuhen von hier auf die Straße ausweichen und deshalb sieben Kilometer Umweg gehen.

Die Herberge von Lubián befindet sich direkt am Ortsanfang. Es ist ein schöner Natursteinbau. Als ich dort ankomme, ist dort kein Mensch, aber im oberen Schlafsaal entdecke ich neben den Betten die Rucksäcke von Gabor und Quinn. Weil es bereits halb drei ist, schnappe ich mir meine Wertsachen und mache mich auf den Weg zur Bar, um noch ein Mittagessen zu ergattern. Aus der Vergangenheit weiß ich, dass der Ort sehr weitläufig ist. Gabor und Quinn sind gerade fertig mit Essen, als ich die Bar betrete. Was für eine Freude, die beiden wiederzusehen.

Später in der Herberge ist auch Gorazd inzwischen angekommen. Er sondert sich ein wenig ab, ist einsilbig. Möglicherweise steht auch hier ein Abschied bevor. Ich könnte mir vorstellen, dass er irgendwann doch allein weitergeht. Ich hoffe, er verabschiedet sich nicht ganz abrupt; aber ich traue es ihm zu. Freude über Wiedersehen und die Trauer des Abschieds liegen auf dem Camino sehr nah beieinander.

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