Tag 26: Granja de Moreruela – Tábara (16.06.2022)

Ultreia! – Vorwärts! Weiter! – Mit dem Gedanken an diesen Ausruf, mit dem die Pilger sich seit Jahrhunderten gegenseitig Mut machen, einfach weiterzugehen, egal was ist, erwache ich heute nach einem tiefen, traumlosen Schlaf. Ultreia! Das klingt wie ein Schlachtruf. Es verscheucht die Zweifel und macht immun gegen die Eingebungen des Ego und den Schmerz.

Nach meinem moralischen Tief am Vortag habe ich keine besonderen Erwartungen an den Weg heute. Ich will einfach weiter. Die Aussicht auf die Sierra de Culebra hat meine Lebensgeister geweckt, die Hoffnung auf etwas anderes als lange Geraden in öder Umgebung.

Als ich um zehn vor fünf Uhr morgens die Tür zur Straße aufstoße, ist es noch stockfinster. Ich bin nicht die erste. Umberto ist vor mir raus. Unser italienischer Pilgerfreund vom Gardasee legt großen Wert darauf, bereits vor Mittag an seinem Tagesziel anzukommen, und hält dann erst einmal eine lange Siesta. Kurz bevor er sich verabschiedet, fragt er mich noch, ob er auf mich warten soll, damit ich mich im Dunkeln nicht verlaufe. Ich verneine und bereue das nach kurzer Zeit.

Kurz hinter dem Schild, das auf die Teilung des Weges hinweist, verlaufe ich mich, wie so oft auf der Vía de la Plata. Entweder liegt es an meiner funzeligen Stirnlampe oder an der Beschilderung, die anscheinend in den Pandemie-Jahren gelitten hat. Ich muss also umkehren, mich noch einmal neu orientieren und peile die Richtung mit Hilfe meines Mobiltelefons. Nachdem ich endlich den richtigen Weg eingeschlagen habe, helfen mir die fluoreszierenden Wegweiser am Rande der schnurgeraden Schotterpiste. Ich bin froh darum, denn den einen oder anderen Abzweig hätte ich auf der Geradeausstrecke im Dunkeln verschlafen.

In Granja teilt sich der Weg. Die Vía de la Plata führt weiter in Richtung Norden, bis sie sich in Astorga mit dem Camino Francés vermählt. Der Weg nach Westen ist als Camino Sanabrés bekannt. Ich bin ihn schon im Jahr 2019 ab Puebla de Sanabria gegangen. Das ist nur noch wenige Tagesetappen entfernt.

Im Halbdunkel der Dämmerung erkenne ich, dass der Bewuchs rechts und links des Weges stärker wird. Zistrosenbüsche besiedeln die Landschaft. Irgendwann biege ich von der Schotterpiste in einen angenehmen, sanften Waldweg ab. Welch eine Wohltat für meine geschundenen Füße! Im Halbdunkel erkenne ich, dass es hier irgendwann gebrannt haben muss. Meinem Glück über das Gehen auf Trampelpfaden tut das keinen Abbruch. Nicht einmal als der Weg steil nach unten abfällt.

Ich vertue mich, gehe hinunter ans Wasser und scheuche ein paar Enten auf. Dann endet der Pfad in der Wildnis. Ich muss zurück, nehme eine Abkürzung und gehe am Abhang steil zur Straße hinauf durch die Botanik. Dabei rutsche ich, der schwere Rucksack zieht mich gefährlich nach hinten. Wenn ich mich jetzt nicht halten kann, stürze ich mindestens zehn Meter nahezu senkrecht nach unten. Aber schließlich schaffe ich es, wische mir ein paar Schweißperlen von der Stirn und setze meinen Weg auf der Straße hinunter zum Fluß fort.

Die Straße mündet in eine lange Brücke mit zehn Bögen über den Río Esla. Ich bin am frühen Morgen hier noch ganz allein und kann mich gar nicht sattsehen. Das Wasser, der Taleinschnitt, die Feuchtigkeit. Ich bin für alles dankbar, das mir in irgendeiner Weise eine Abwechslung zum Einerlei der Weizenfelder und Schotterpisten der vielen Tage zuvor verspricht.

Hinter der Brücke teilt sich der Weg in eine Variante für die Radfahrer an der Straße entlang. Die andere Variante deutet auf eine Kletterpartie hin. Ich entscheide mich für die Kletterpartie. Jede Abwechslung ist mir heute willkommen. Der anfangs anstrengende Pfad entpuppt sich als angenehmer Trampelweg durchs Grüne, der nach und nach steil bergauf führt und oben mit einer erhabenen Aussicht auf den Felsdurchbruch des Río Esla belohnt. Dort gönne ich mir erst einmal eine Frühstückspause. Heute früh hat es nichts gegeben und ich bin schon zwei Stunden unterwegs.

Weiter gehts etwa eine halbe Stunde lang. Dann kommt wieder – ja, was wohl: eine lange Gerade. Und zwar eine, die weitere lange gerade Strecken einleitet. Es ist nicht ganz so schwer zu ertragen, weil es ja doch wenigstens mal ein paar Stunden Abwechslung gegeben hat. Einige der Geraden sind sogar statt mit grobem Schotter mit Sand belegt, auf dem ich leidlich gut gehen kann. Irgendwann gibt eine Anhöhe den Blick auf Faramontanos de Tábara und auf das heutige Tagesziel Tábara frei. Bis dorthin sind es noch gut drei Stunden zu Fuß. Es ist gerade mal neun Uhr durch.

Die Bar in Fontanella ist meine. Ein älterer Mann hinter dem Tresen spottet mich sofort als einen hungrigen Gast mit Jieper auf ein ordentliches Schinken-Sandwich. Dazu eine Kas de Limón, die zischt, und ein Café con Leche. Ich sitze noch nicht lange, als Gorazd und Francisco um die Ecke biegen. Bei den wenigen Gelegenheiten wird eine unscheinbare Bar ein wenig abseits des Weges zum Publikumsmagneten. Und der Kaffee ist genau auf den Punkt.

Danach fühle ich mich wie aufgezogen, obwohl in der letzten Stunde die unerträgliche Hitze eingesetzt hat. Irgendwo im Nirgendwo steht auf der Piste ein LKW, der eine tote Ziege auflädt. Es riecht nach Verwesung. Es geht geradeaus. Bei mir läuft es. Weit vor mir sehe ich Francisco gehen und es scheint, als würde ich mich nähern. Meine Füße machen heute mit.

In Tábara steuere ich die touristische Herberge El Roble an. Zum Einchecken betrete ich die Bar. Die Hospitalera nimmt dort erst einmal gar keine Notiz von mir. Nach einer Ewigkeit, in der sie hinter dem Tresen verschiedene Gegenstände von rechts nach links bewegt hat, beginnt sie erst einmal ein Gespräch mit jemandem, der gerade von der Straße hereinkommt. Ich setze meinen Rucksack ab, warte und bin ein paar Minuten später drauf und dran zu gehen, als sie sich endlich bequemt, mich nach meinem Anliegen zu fragen. Nicht ohne das typische „Hace mucho calor.“. Ich bin in diesem Moment froh, dass mein Tag ein guter war, sonst könnte ich mich jetzt nicht mehr beherrschen. Immerhin steht sie in der klimagekühlten Bar und ich habe fünfundzwanzig Kilometer bei ungefähr 38 Grad Celsius in den Beinen. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich meine Daten aufgenommen hat und mir den Schlüssel für die Herberge aushändigt.

Die Unterkunft selbst hält nicht, was eine private Herberge in Spanien verspricht. Die Küche ist eng, der Schlafsaal auch. Das Mittagessen reichlich, aber bei weitem, wie alles andere auch, kein Highlight. Man spürt es bereits an der Art, wie man als Pilger aufgenommen wird. Es gibt eben auch hier die Menschen, die in allererster Linie Profit aus dem Weg schlagen.

Ich gönne mir eine kurze Siesta. Außer Gorazd und mir übernachtet hier heute noch ein spanischer Radpilger, der mich ohne Punkt und Komma vollquatscht, als ich mir meinen After Siesta-Kaffee zubereite. Jeder, wirklich jeder hier scheint zu glauben, dass ein paar minimalistische Sprachkenntnisse einen dazu befähigen, immerzu tiefsinnige Gespräche in der Fremdsprache zu führen.

Aber auch das ist nur ein Ausdruck (m)einer vorübergehenden Verstimmtheit.

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