Es gibt Wegführungen, da fragt man sich, wer die geplant hat und warum. Man läuft brav den Zeichen hinterher, um schließlich festzustellen, dass man einen völlig sinnlosen Umweg gemacht hat. Nun kann man sich darüber ärgern oder achselzuckend einfach weitergehen im Vertrauen darauf, dass der Rest des Weges einen schon irgendwohin führen wird.
Die Etappe heute beginnt genau so, mit einem sinnlosen Umweg. Und sie endet auch nicht dort, wo ich hin will. Dass sich genau das ein paar Tage später als ein großes Glück erweisen wird, überschaue ich natürlich nicht.
Im Dunkeln taste ich mich heute über die ZA-100 im Zickzack östlich der Straße in Richtung AVE-Trasse vor, nur um später, gerade mal einen Kilometer weiter nördlich wieder zurück zur Landstraße zu kommen und dann westlich der Straße meinen Weg fortzusetzen. Das fängt schon mal gut an. Aber es läuft. Mein Problemzeh lässt mich heute früh mal in Ruhe.
In der Dämmerung sehe ich geradeaus vor mir in der Ferne über der bewaldeten Anhöhe einen Feuerball glühen. Für einen spektakulären Sonnenaufgang ist das definitiv die falsche Richtung. Irritiert schaue ich mich um. Aber nein! Die Sonne kommt gerade rechts hinter mir hoch. Das geradeaus vor mir muss ein großes Feuer sein. Zu der Zeit denke ich noch nicht an einen Waldbrand. Erst als ich ein bis zwei Stunden später großräumig um den Berg herumgekommen bin, zeigt sich angesichts diverser Rauchsäulen die Ursache. Kein Zweifel. Es brennt, und zwar an verschiedenen Stellen. Noch wähne ich mich weit davon entfernt.
In Villanueva de las Peras gibt es eine Bar, die selbst nach Frankfurter Maßstäben modern ist. Die Toiletten sind auf dem neuesten Stand, die Türen lassen sich schließen, es gibt Seife am Waschbecken. All das ist in der Meseta nicht selbstverständlich. Es gibt feine Tapas, eine Kas de Limón und einen Café con Leche, serviert in einer Tasse mit der Aufschrift „Heute ist ein guter Tag, um einen großartigen Tag zu erleben“. Na, wenn das nicht verheißungsvoll ist!
Der ganze Ort ist sehr gepflegt. Blumen in bunten Töpfen zieren die Eingangstüren, alles wirkt ein bisschen spielerisch und liebevoll arrangiert, ganz anders, als die Ortschaften auf den letzten paar hundert Kilometern sich präsentiert haben. Außerhalb des Dorfes verströmen grasbewachsene Bodegas, in denen der Wein kühl gelagert wird, den Charme von Hobbiton.
Bis Santa Marta de Tera, dem heutigen Etappenziel, sind es noch etwa dreieinhalb Stunden. In der dortigen Herberge soll es eine gut eingerichtete Küche geben. Ich will heute für Gorazd und mich was kochen. Dafür muss ich im Ort davor einkaufen gehen und meine Schätze zwanzig Minuten lang tragen. Das ist machbar. In Santa Croya de Tera kaufe ich also für ein Abendessen ein: Reis, etliche Sorten Gemüse, Joghurt, Brot. Doch als ich dann in Santa Marta de Tera vor dem schönen Natursteinbau neben der Kirche stehe, weist ein handgeschriebener Zettel darauf hin, dass die Herberge genau an diesem Wochenende geschlossen ist. Das darf doch nicht wahr sein! Hilfesuchend schaue ich mich um. Hinter mir hat ein Kleinlaster gehalten. Ich frage den Mann, ob die Herberge wirklich zu ist. Er sagt, ich müsse noch elf Kilometer weiter gehen. Nach einem Blick auf meine zwei Einkaufstüten schiebt er hinterher, dass ich das ja wahrscheinlich ablehnen würde, aber er könne mich fahren.
Mein erster Impuls ist einsteigen. Was soll’s! Ich bin so viel zu Fuß gegangen, die elf Kilometer. Und ich habe ja einen Grund. Wie soll ich denn die ganzen Einkäufe noch elf Kilometer weit schleppen? Doch dann fällt mir ein, dass Gorazd, der hinter mir ist, das gleiche Problem hat. Es fühlt es sich nicht gut an, wenn ich mich fahren lasse, während Gorazd zu Fuß gehen muss. Also lehne ich das Angebot ab.
Ich warte eine Stunde lang auf Gorazd und verzehre erst einmal einen Teil meiner Einkäufe. Dann fülle ich meine Trinkblase auf und verstaue einige Vorräte, Gorazd nimmt mir den anderen Teil ab. Wir gönnen uns in der Bar noch ein kühles Getränk, bevor wir uns auf den Weg nach Calzadilla de Tera machen. Noch elf Kilometer, und jetzt wird es erst richtig heiß. Wenigstens führt der Weg am Kanal entlang.
Gegen Ende wird die Hitze drückend. Fliegen umschwirren mein Gesicht und ich fluche wie ein Rohrspatz, weil sich mein Zeh wieder böse meldet.
Kurz vor Calzadilla passieren wir ein überdachtes Wasserbecken. Wir ziehen die Schuhe aus und stellen die Füße ins Wasser. Es ist so kalt, dass ich bereits nach wenigen Minuten zu frieren beginne. So abgekühlt, beschließen wir noch weitere zwei Kilometer bis Olleros de la Tera zu gehen. Dort gibt es wenigstens eine Bar. Die Herberge La Trucha hält nicht ganz, was wir uns anhand der Beschreibung im Rother Wanderführer zurechtfantasieren. Es gibt einfache Betten, keine Stockbetten. Aber die Matratzen sind mit Wolldecken bezogen, es gibt keine Hygienelaken und nur der Himmel weiß, wann die Wolldecken zuletzt gewaschen worden sind. Immerhin gibt es eine Mikrowelle und einen Kühlschrank.
Unser Herbergswirt Alvaro entpuppt sich als guter Gastgeber mit einem Händchen für frisch zubereitetes Essen. Weil wir die einzigen Gäste sind, dürfen wir uns sogar die Uhrzeit fürs Essen wünschen. Punkt 17 Uhr macht er sich an die Arbeit und zaubert uns das beste Abendessen, das ich bisher auf der Vía de la Plata bekommen habe. Die Zutaten kommen frisch aus dem Garten. Salat und Gemüse werden von der 91jährigen Großmutter persönlich im Garten hinterm Haus gezogen. Stolz erzählt sie mir, dass sie noch ohne Brille lesen kann und vierzig Bücher besitzt. Sie erzählt mir noch eine ganze Menge anderer Dinge, die ich mir aber mangels adäquater Sprachkenntnisse leider nur unvollständig zusammenreimen kann.
Am Abend ziehen beißende Rauchschwaden des Großfeuers über den Ort hinweg, das derzeit in der Sierra de Culebra wütet. Von Alvaro erfahre ich, dass bereits 11.000 ha verbrannt sind. Die Wetterverhältnisse sind ungünstig. Es weht ein kräftiger Wind. Und der erste Aschestaub landet auf unserem Tisch. Keine guten Aussichten.