Wenn uns ein großes Unglück ereilt, verfallen wir in der Regel als allererstes in eine Art Schockstarre. Der Schmerz überwältigt uns, und wir sind nicht in der Lage zu handeln oder auch nur zu begreifen, was gerade mit uns geschieht. Wir benötigen Zeit, um wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. Jeder von uns hat da so seine eigenen Strategien. Meine Strategie, in den gegenwärtigen Moment zurückzukommen, ist der tiefe Atem; bei länger andauernden Ereignissen wie der Corona-Krise sind die im Teil II dieser Serie beschriebenen Methoden meine Mittel der Wahl.
Sobald wir dann wieder aufrecht und sicher stehen und uns unserer Präsenz bewusst sind, beginnen wir nach Möglichkeiten zu suchen, um so schnell wie möglich wieder den Zustand herzustellen, aus dem uns das Ereignis geworfen hat. Oft treten wir dabei erst einmal auf der Stelle: Je nach Temperament verfallen wir in sinnlose Hyperaktivität, wir schimpfen und lamentieren oder beschuldigen gar andere, das Universum oder Gott. Doch wenn wir das lange genug erfolglos gemacht haben, dann müssen wir irgendwann erkennen, dass nur wir uns selbst fortbewegen können. Ich weiß nicht wie es Euch geht, ich für meinen Teil lasse mich äußerst ungern aus meiner Komfortzone verdrängen.
Mich treibt die Frage um, wie ich losgehe, wenn ich gar nicht weiß, wohin. Ganz klar: Es muss eine Vision her, ein Ziel auf das es sich lohnt zuzugehen. Als ich mich entschlossen hatte, auf dem Jakobsweg zu pilgern, da hatte ich Santiago und Finisterre – das Ende der Welt – als Ziel. Einen Ort, auf den ich zugegangen bin, sicher geführt von Wegweisern wie Muschelzeichen und gelben Pfeilen. Doch warum bin ich überhaupt nach Santiago gegangen? Hätte es nicht auch jedes andere Ziel getan? Ich bin doch nicht dorthin gegangen, weil dort ein Heiliger begraben ist.
Um ehrlich zu sein: Ich habe vorher kaum einen Gedanken an diesen Ort verschwendet. Ich hatte ein paar Fragen spiritueller Art, Dinge, die mich schon lang beschäftigt hatten. Ich hatte den Wunsch nach Veränderung. Ich wollte einfach gehen. Und es gab außer mir noch eine ganze Menge anderer Leute, die auch dorthin gegangen sind. Der Weg entsteht im Gehen, heißt es.
Genau wie damals auf dem Camino weiß ich nicht, worauf ich genau in der Corona-Krise zusteuere. Ich weiß nicht einmal wie weit es ist und wie lange es dauern wird. Der Ausgang ist also völlig ungewiss. Sicher ist nur, dass der Weg dahin mich verändern wird und dass die Welt allein schon deswegen eine andere sein wird, weil wir uns alle bewegen müssen.
Ich frage mich, was in dieser Situation mein persönliches Santiago – mein Ziel – sein kann. Wo möchte ich am Ende dieser Zeit sein? Wenn ich mir jetzt einen Zeitraffer vorstelle, worauf möchte ich von der Zukunft aus zurückblicken?
Ganz sicher möchte ich nicht darauf zurückschauen müssen, dass ich diese Chance des Innehaltens nicht genutzt habe, um daran mitzuwirken, dass diese Welt eine bessere wird. Ich wünsche mir, dass dies eine Welt wird, in der jeder Einzelne mit seinen Bedürfnissen zählt, in der wir Menschen miteinander solidarisch sind und auf eine lebenswerte Atmosphäre und intakte Umwelt sowohl für uns selbst als auch unsere Nachkommen achten. Das beinhaltet auch, dass ich selbst meine Intoleranz, meine Ängste und meine eigene Bequemlichkeit aufgeben muss.
Was ich im einzelnen dazu beitragen kann, darüber möchte ich mir in den nächsten drei Tagen Gedanken machen. Bis dahin wünsche ich Euch eine gute Zeit und „Buen Camino“!