Wohin des Wegs? – A Santiago Voy. Natürlich. Nach Santiago gehen wir. Der Weg spiegelt es immer wieder, hier in Galizien noch sehr viel mehr als je zuvor. An den Häusern längs des Weges zeigt sich kreativ, wie sehr die Anwohner ihren Camino leben und lieben. Pfeile, Pilgerfiguren aus Draht, Muschelzeichen, eine ganze Bar und Herberge voller Muscheln, die sich eines jeden erinnern, der hier vorübergezogen ist. So habe auch ich eine Muschel in Albergueía hängen. Wer weiß wie lange noch? – Nun ja, wer weiß wie lange sich der Weg sich meiner erinnern wird. Manchmal glaube ich, meine Fußabdrücke werden für immer in den staubigen Pisten haften, festgetreten von Tausenden oder Millionen Fußpaaren, die auf meine Schritte folgen, morgen, übermorgen und so weiter. So war es und so wird es immer sein.
Für heute ist Regen angesagt, und es besteht kein Zweifel daran, dass der Wetterbericht hält, was er versprochen hat. Hundert Prozent Regenwahrscheinlichkeit. Das kann man nicht wegdiskutieren. Gabor hat beschlossen, einen Tag länger in Laza zu bleiben. Das überrascht mich. Aber ich bin fast sicher, dass wir uns wiedersehen werden.
Umberto wird für die Nacht in dem dreizehn Kilometer entfernten Alberguería bleiben. Ein weiterer Abschied für immer auf dem Camino. Der Italiener vom Gardasee hat sich für immer in meiner Seele eingebrannt. Mit seiner Brühe, die er jeden Abend gekocht hat, seinem unbedingten Gespür für gutes Essen und Einkaufsquellen. Mit seinem betretenen Gesicht, als er mir gestand, dass er meine Reste vom Mittagessen gefuttert hatte, weil er glaubte, es wäre für die Allgemeinheit. Das war in Granja de Moreruela. Und es zaubert mir auch heute noch ein Lächeln ins Gesicht. Ein Abschied in einer Umarmung für die Ewigkeit, begleitet von dem Dank für die gemeinsame Zeit und allen guten Wünschen für ein glückliches weiteres Leben. Kein Versuch, die Begegnung für immer zu halten. Nichts festhalten. Geschehen lassen. Weitergehen.
Der Weg aus Laza folgt der Straße, führt an einigen kleinen Ortschaften vorbei, um dann hinter Tamicelas steil bergauf zu führen. Die Luft dampft und scheint gar keine Feuchtigkeit mehr aufnehmen zu können. Unter dem Poncho wird es klamm vom Schweiß. Einen Schritt vor den anderen auf dem glitschigen Weg. Einen Schritt vor den anderen. So setze ich den Fuß schließlich auf die Landstraße, die sich nach einem weiteren Kilometer in die kleine Ortschaft Alberguería ergießt. Der Himmel reißt auf, ich reiße die Kapuze vom Kopf und setze meine Brille wieder auf, die ich in der Tasche verstaut hatte, weil sie mir in der Feuchtigkeit ohnehin keine Hilfe mehr war.
Wir haben Glück. Die Bar ist geöffnet. Ich trete ein. Jeder Quadratzentimeter ist von Millionen Jakobsmuscheln bedeckt, die alle Inschriften tragen. Auch ich habe vor drei Jahren eine Muschel beschriftet. Es gibt Empanadas und Café con Leche. Quinn leistet mir Gesellschaft. Nachdem ich einigermaßen gestärkt bin, frage ich den Wirt, ob sich wohl meine Muschel wiederfinden lässt. Kein Problem für ihn, sofern ich weiß, an welchem Tag ich da war. Ich denke nach und kann mich ziemlich genau erinnern, weil Tage auf dem Camino selten bedeutungslos sind. Er winkt mir, dass ich mitkommen soll und geht mit mir auf die andere Straßenseite in die Herberge. Und tatsächlich: Er braucht nur wenige Griffe, um mich zu meiner Muschel zu führen. Das unverhoffte Wiedersehen mit diesem Gegenstand berührt mich.
Als ich meinen Weg fortsetze, zeigt sich auf einmal die Sonne am Himmel. Es wird beinahe ein wenig warm. Ich glaube schon, dass es das war mit dem Regen, da setzt ein plötzlicher Nieselregen gerade ein, als ich nach Vilar do Barrio hineinlaufe. Ich nutze den Regen für einen weiteren Kaffee und setze meinen Weg dann fort. Am Ortsausgang kommt dann die Sonne wieder heraus. Ich setze mich noch einmal an einem Rastplatz, esse meinen restlichen Proviant, was sich später als Glücksfall herausstellen soll. Denn als ich mich wieder auf den Weg mache, setzt ganz plötzlich der Regen wieder ein. Kein Nieselregen diesmal, sondern ein schwerer, heftiger Regen, der für die restlichen dreieinhalb Stunden des Weges bis Xunqueira de Ambia nicht mehr aufhört. Die Staubpiste wird zu einer gigantischen Wasserlache. Es weht ein kalter Wind, der mir die schweren Tropfen ins Gesicht peitscht. Ich trage nur ein T-Shirt und einen kurzen Rock unter meinem Poncho und will auch nicht mehr anziehen, denn dieser Sintflut hält nichts mehr stand: nicht der Poncho und auch nicht die Goretex-Stiefel. Nach einer Stunde quatscht es bei jedem Schritt und ich beginne mich darum zu sorgen, wie ich die Schuhe, die innen mit Leder gefüttert sind, um alles in der Welt wieder trocken bekommen soll.
Stunden um Stunden gehe ich mit gesenktem Kopf und fluche leise vor mich hin. Für die Schönheit des Landes und die herrlichen Aussichten nach Bobadela und Padreso, bei Cima de Vila, habe ich kaum einen Blick. Ich bin durchgefroren, durchnässt und sorge mich. ‚Ich muss Zeitungen kaufen‘, denke ich, ‚die Wanderschuhe ausstopfen‘. Und was, wenn es morgen wieder so schüttet? Da ist sie wieder, die alte Stimme. Eine, die nicht vertraut, die immer alles selbst in die Hand nehmen will. Und dann feststellt, dass sie nicht gebraucht wird. Denn es ist kaum zu fassen:
In der Herberge von Xunqueira de Ambia ist warm, auf dem Schuhregal liegen Tonnen von Zeitungspapier. – Anscheinend kennt man das Problem der nassen Schuhe hier nur zu gut. – Und zum Antrocknen steht außerdem der taiwanesische Hochleistungsfön meiner Pilgerfreundin Quinn zur Verfügung, die mich mit einem Augenzwinkern daran erinnert, dass ich vor drei Wochen noch die Sinnhaftigkeit eines Föns auf dem Camino bezweifelt habe.
Es kommt eben alles im Leben zu einem zurück.