Heute früh bin ich zum ersten Mal mit dem Umstand konfrontiert, dass es in einer Herbergsküche kein Licht gibt. Wir sind zu dritt in der Küche: Quinn, Gorazd und ich. Keiner von uns findet einen Lichtschalter, also behelfen wir uns, nachdem wir uns lang genug abgemüht haben, mit unseren Stirnlampen. Gorazd hat Pappbecher organisiert, so dass wir in der klinisch reinen, von jeglichem Geschirr befreiten Küche, wenigstens einen Tee und löslichen Kaffee kochen können. Noch ahnen wir nicht, dass die Junta wohl aus Hygienegründen verbietet, dass Geschirr bereitgestellt wird. Nun ja, ganz verübeln kann man es der Junta nicht. Denn in aller Regel wird Geschirr auf dem Weg einmal kurz – oft genug mit kaltem Wasser – ausgespült, bevor es wieder in den Schrank zurückwandert. Was es mit dem Licht auf sich hat, will sich mir dennoch nicht erschließen, aber es soll kein Einzelfall bleiben.
Um 6 Uhr macht die Bar nebenan auf. Normalerweise sage ich zu einem guten Café con Leche nicht ’nein‘, aber heute bin ich versorgt mit einem Kaffee aus der Tüte. Ich will jetzt einfach losgehen und wundere mich fast ein wenig über mich selber. Die gute alte Gewohnheit scheint nicht mehr ganz so wichtig. Ich fühle mich frei.
Ich lasse also alle, die doch noch auf einen Kaffee und ein ordentliches Frühstück gehen, hinter mir, was mir einen ordentlichen Vorsprung verschafft. Den ganzen Tag über sehe ich niemanden aus der Herberge.
Ein wenig mulmig ist mir beim Aufstieg hinauf in die Sierra. Ich erinnere mich an eine schlimme Begegnung mit einem bissigen Hund vor drei Jahren in einem der Gehöfte. Damals kam ich einigermaßen gut davon. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal so mutig wäre. Zum Glück muss ich es nicht ausprobieren.
Die Namen der Gehöfte beginnen alle mit „Venda“: A Venda de Espiño, A Venda de Teresa, A Venda da Capela, A Venda do Bolaño. Das waren wohl in früheren Zeiten Herbergen und Verpflegungsstationen an der Route. Heute sieht man hier niemanden. Und einen bösartigen Hund treffe ich glücklicherweise auch nicht an.
Die Wegführung hat sich zwischenzeitlich auch etwas verändert. War ich damals von dem im Tal liegenden A Gudiña aus lange Zeit direkt an der Straße gegangen, verläuft der Weg inzwischen in einigem Abstand mehr oder weniger parallel zur Straße. Mehrfach kreuzt der Weg die alte Bahnlinie Sierra de Culebra. Weit unten liegt der Stausee Encoro das Portas tief in seinem Bett und gibt den Blick auf die nackten Felsen frei. Niedrigstand. Hoch oben passiere ich einen Picknickplatz mit Schaukel. Wie wunderbar! Die Einladung lasse ich mir nicht entgehen und schaukle über dieser Mondlandschaft dem Himmel entgegen.
Irgendwann geht es links steil hoch über den letzten Bergrücken, an dessen Ende schließlich Campobecerros über den steilen Abhang zu erreichen ist. Ich habe mittlerweile großen Hunger und erinnere mich, dass ich in der Taberna Penaboa 2019 einen sehr schönen Nachmittag mit Elizabeth und Richard verbracht habe. Zu gerne wäre ich heute wieder dort eingekehrt, aber die Taverne ist dauerhaft geschlossen. Also begnüge ich mich mit einem Picknick am Parkplatz gegenüber, bei dem mir ein paar junge Kätzchen Gesellschaft leisten.
Die letzten 15 Kilometer von den insgesamt 35 bis nach Laza hinunter ziehen sich gewaltig. In As Eiras scheint es jemanden zu geben, der es sehr gut mit Pilgern meint und dort immer etwas zu Essen und zu Trinken hinstellt. Zu gerne hätte ich den Gastgeber diesmal persönlich kennengelernt, aber es ist niemand zu Hause. Trotzdem ein netter Zug.
Als ich dann endlich nach etwa neun Stunden zu Fuß in Laza vor der Herberge stehe, stelle ich fest, dass ich den Schlüssel im Rathaus abholen muss. Also wieder zurück, hinunter ins Dorf, durchfragen. Und wieder zurück, hinauf zur Herberge. Kurz nachdem ich die Pilgerherberge betrete, öffnet der Himmel seine Tore für einen gewaltigen Wolkenbruch.
Ich brauche nicht lange, um mich auch in dieser Herberge zu Hause zu fühlen. Denn während ich meine Sachen auspacke und mein Bett beziehe, betritt der Italiener Umberto den Schlafsaal. Ich habe ihn seit Granja de Moreruela und den Feuern in der Sierra de Culebra nicht mehr getroffen. Und auch Gabor und Quinn sind inzwischen, gerade noch trockenen Fußes, angekommen. Nur Gorazd wird vermisst, was ich merkwürdig finde, weil er am Morgen direkt nach mir aufbrechen wollte.
Umberto hat das Dorf schon nach Essbarem auskundschaftet und mit seinem italienischen Gespür für gutes Essen die größten Leckerbissen und besten Adressen ausfindig gemacht. Es gibt einen Lebensmittelladen und eine in einem Hinterhof versteckte Panaderia, die köstliche Empanadas in der Auslage hat. Genauer gesagt: Sie hat genau noch eine, fast so groß wie eine Pizza, und absolut ausreichend, um sie mit dem slowenischen Freund zu teilen. Denn wie sich herausstellt, hat Gorazd am Morgen versehentlich die Route über Verin genommen und damit heute etwa 50 Kilometer hinter sich. Als er endlich ankommt, ist er klatschnass und völlig aufgedreht. In Verin zu bleiben kam für ihn nicht in Frage. Er will unbedingt mit uns zusammen in Santiago ankommen. Versteht sich, dass wir ihn bestens versorgen. Wir sind schließlich inzwischen eine Familie.