Tag 10: Sto. Domingo de la Calzada – Villafranca Montes de Oca (01.06.2017)

Santo Domingo de la Calzada verlasse ich heute vergnügt und freue mich immer noch wie Bolle über den Schwund an Gewicht auf meinem Rücken. Der Weg führt vorbei an der Kathedrale und am hiesigen Parador, Ein Parador ist ein Hotel der gehobenen Klasse, das in der Regel in einem historischen Gebäude untergebracht ist. Die Hotelkette der Paradores gehört dem spanischen Staat.
Ich habe mich an die einfache Übernachtung in den Herbergen gewöhnt, fühle mich frei wie ein Vogel und möchte meine bescheidenen Unterkünfte um nichts in der Welt gegen einen Parador tauschen. Bisher bin ich noch nicht einmal durch Schnarcher wirklich gestört worden. Noch sehne ich mich nicht nach sauberen weißen Bettlaken. Klar: Ein normales Frotteehandtuch wäre schon was. Aber dieser Mangel ist leicht zu verschmerzen angesichts der Glücksgefühle, wenn du bei aller Herrgottsfrühe durch duftende Felder streifst, ausgerüstet mit nichts als dem, was du tragen kannst.

Der Weg führt heute den ganzen Tag über durch Getreide- und Maisfelder, sanfte Hügel, mit freiem Blick über das weite Land. Ich gehe gemeinsam mit Ricky. Wir haben uns mit Lorena und Flavio in Villafranca Montes de Oca verabredet, etwa fünfunddreißig Kilometer von Sto. Domingo. Roger und Beat sind gestern schon weitergegangen bis Grañon. Ich glaube, wir werden sie auch heute Abend nicht treffen. Wir sind anfangs so ins Gespräch vertieft, dass wir einen Abzweig verpassen und nicht einmal hören, dass die nachfolgenden Pilger uns hinterherrufen und laut pfeifen, um uns auf unseren Irrtum aufmerksam zu machen. Als wir schließlich feststellen, dass wir uns verlaufen haben, müssen wir einen ganzen Kilometer zurück.

Nach etwa zehn Kilometern verlassen wir das Rioja-Gebiet und betreten die Region Castilia und León. Es wird heute sehr heiß werden. Ein Vorgeschmack auf das, was uns vermutlich in der Meseta erwartet. Innerlich regt sich bei dem Gedanken an die Hochebene ein wenig Unruhe. Ich spüre deutlich, dass ich allein weiter muss, kann mich aber nicht entscheiden zu gehen. Ich habe die vergangenen Tage mit meiner Camino-Family wirklich genossen, die geteilten Genüsse, das Gehen miteinander, Gespräche, das Lachen, die Sorge umeinander. Wir sind ein gutes, eingespieltes Team. Wieso sollte ich also wieder in einsame Klausur gehen? – Und dennoch: Ich habe eine Verabredung mit mir. Und ich fühle mich abgelenkt.

Wir gehen heute durch viele kleine Ortschaften, die dicht aufeinanderfolgen. Grañon, Redecilla del Camino, Castildelgado, Viloria. Villamayor, … – in Belorado gönnen wir uns eine längere Mittagspause. Da haben wir schon etwa dreiundzwanzig Kilometer hinter uns gebracht. Zwölf weitere soll es noch werden. Belorado gefällt mir gut, wenn es die Verabredungen nicht gäbe, würde ich hier vielleicht sogar bleiben. Aber die Familie will sich heute in Villafranca treffen.

Die kommenden zwölf Kilometer ziehen sich. Es ist nun wirklich sehr heiß geworden. Die Piste ist so hell, dass ich trotz meines breitkrempigen Huts geblendet bin. Das gleißende Sonnenlicht macht mich halb blind. Unsere Gespräche verstummen, verbissen gehen wir weiter. In Tosantos könnte ich eine Pause gebrauchen. Ich möchte mich setzen, aber Ricky geht weiter und ich hinterher. Die letzten sieben Kilometer von Tosantos nach Villafranca Montes de Oca sind quälend, meine Zehen brennen. Ich möchte mich nur noch setzen.

Als wir endlich am Nachmittag in Villafranca eintreffen, entscheiden wir uns gleich für die erste Herberge im Ort. Dort gibt es Zweibettzimmer. Christina, die Hospitalera, ist sehr freundlich, und bietet sogar Massagen an. Wir vereinbaren gleich einen Termin. Eine Weile sitzen wir im Gang herum, weil Christina im Nachbarhaus mit dem Wirt über den Massageraum verhandelt. Ich werfe die Schuhe von mir und setze mich mangels anderer Gelegenheit auf den Boden. So fertig war ich auf dem ganzen Weg noch nicht. Meine Waden sind bretthart. Im Moment weiß ich nicht, wie ich weiterlaufen soll.

Heute Nacht werde ich mir das Zimmer mit Ricky teilen. Ricky schreibt den „Children“, wie er Lorena und Flavio inzwischen nennt, eine Nachricht. Wir hoffen wohl beide, dass sie noch kommen, weil wir uns sonst ein Zimmer zu zweit teilen müssen.

Die Massage ist wirklich eine Wohltat für meine strapazierten Waden und Füße. Danach bin ich wieder etwas unternehmungslustiger. Zu uns gesellen sich zwei Kanadierinnen, eine Polizistin in Rente mit ihrer Freundin. Wir haben alle die Nase voll von den ewigen Pilgermenüs. Gegenüber gibt es einen Laden, der einigermaßen gut sortiert ist. Gemeinsam kochen wir Spaghetti mit einer Gemüsesauce. Die beste Mahlzeit seit langem.

In der Nacht müssen wir uns doch das Zimmer zu zweit teilen. Lorena und Flavio haben es heute nicht bis hierher geschafft. Als ich im Bett liege, rumpeln draußen eine ganze Menge LKWs vorbei. Wir hatten gar nicht darauf geachtet, dass wir hier an einer verkehrsreichen Durchgangstraße nach Burgos gelandet sind. Ich versuche, dem Lärm mit Musik aus dem Kopfhörer beizukommen. Drüben liegt Ricky und tut genau dasselbe. Keiner von uns hat Lust zu reden.

Aufgrund der seltsamen Situation sind wir beide ein wenig verunsichert. Wir kennen uns erst seit einigen Tagen; und jetzt verbringen wir die Nacht in einem Zimmer für zwei, die Hospitalera hält uns für ein Ehepaar. Plötzlich führen mich meine Gedanken wieder nach Hause zu der kurzen und vor allem unglücklichen Liebesaffäre der vergangenen Monate. Eine schier unerträgliche Trauer überfällt mich. Ich hatte das alles vergessen, seit ich vor zehn Tagen von St. Jean-Pied-de-Port losgelaufen bin. Die vielen neuen Eindrücke auf dem Camino haben die Altlasten aus meinem Kopf gefegt. Doch in den letzten Tagen sammeln sich die alten Schwierigkeiten wieder wie Herbstlaub in einer dunkeln, schmutzigen Garagenecke. Kein Zweifel: Es wird Zeit, dass ich Ordnung schaffe!

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