Heute ist die ganze Familie zusammen: Lorena, Flavio, Ricky, Beat, Roger und ich gehen alle ungefähr zur gleichen Zeit los. Ricky, Lorena, Flavio und ich wollen nur bis Sto. Domingo de la Calzada. Mit nur 22 Kilometern fast ein Pausentag. Nach anfänglichem Zusammengehen zieht es uns ein bisschen auseinander. Ich laufe, wie so häufig in den vergangenen Tagen, mit Ricky. Er tut mir irgendwie gut. Beide reden wir nicht besonders viel. Meistens bestaunen wir beide am Morgen die Landschaft, um uns dann später über alles Mögliche auszutauschen: das Leben zu Hause, die Erfahrungen des Weges, die Schönheit der Natur.
Ich vertraue Ricky an, dass ich unschlüssig bin, ob ich mit ihm und den anderen weitergehen soll oder ob es nicht besser wäre, meinen eigenen Weg zu gehen. Nicht, dass ich mich in ihrer Gesellschaft nicht wohlfühle; aber ich beginne allmählich, kleine Zugeständnisse zu machen: gemeinsames Losgehen am Morgen, warten auf die anderen, Anpassung an ihr Tempo scheinen nur kleine Dinge zu sein. Hier draußen habe ich jedoch bereits jetzt eine ganz deutliche Wahrnehmung für kleinste Störungen entwickelt. Und die beunruhigen mich. Zu Hause war mir kurz vor meiner Abreise klar geworden, dass ich anfangen muss, mein eigenes Haus zu bewohnen. Ich mache zu viele Zugeständnisse im Leben. Ich fühle mich fremdbestimmt, gefangen, in der Falle. Ich bin erstaunt, dass ich nicht alleine bin mit meinen Gedanken ans Weggehen. Auch Ricky denkt wohl manchmal darüber nach.
Ich kann gar nicht genau sagen, was ich mir erwarte. Den ganzen Tag habe ich darüber nachgegrübelt, dass sich eigentlich nicht viel ereignet. Irgendwie habe ich mir von meiner Pilgerreise mehr erwartet. Mehr Klarheit. Mehr Tiefe. Eine Vision. Aber vielleicht reicht es schon, wenn ich zur Ruhe komme und aufhöre, Erwartungen an den Weg zu stellen. Und eines ist ganz deutlich: Ich fühle mich glücklich damit, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das sollte doch reichen!
In Santo Domino de la Calzada kommen wir am späten Vormittag an, die Herberge im Zisterzienserkloster ist noch geschlossen. Hier im Ort gibt es ein Postamt. Ich bin entschlossen, mein überflüssiges Gepäck loszuwerden und frage mich zum nächsten Wander-Ausrüster durch. Und tatsächlich werde ich fündig und erstehe einen Leinenschlafsack. Jetzt kann ich endlich zum Postamt gehen. Meine Jacke und auch eine Baumwoll-Leggings packe ich in den Karton. Der Schlafsack passt nicht in den Karton. Ich entscheide, ihn bei der nächsten Herberge abzugeben. Möglicherweise kann ihn irgendein Pilger ja mal gebrauchen. Das Gefühl der Leichtigkeit, als ich danach meinen Rucksack aufsetze, ist unbeschreiblich. Vergnügt tanze ich einen Luftwalzer über den Platz.
Gemeinsam mit Ricky besichtige ich die Kathedrale am Ort, die bekannt ist für das Hühnerwunder. In der Kirche werden ganzjährig ein weißer Hahn und zwei Hennen gehalten. Das geht auf folgende Legende zurück: Ein Ehepaar und sein Sohn übernachten auf Pilgerfahrt im Ort. Die Tochter des Wirts verliebt sich in den Sohn, der zieht am nächsten Tag aber mit seinen Eltern weiter. Das Mädchen ist sauer, steckt ihm einen silbernen Becher in den Rucksack, und beschuldigt ihn des Diebstahls. Der Sohn des Ehepaars wird zum Tod durch Erhängen verurteilt. Nach der Urteilsvollstreckung stellen die Eltern fest, dass ihr Sohn lebendig am Baum hängt, weil ihn der Heilige Santo Domingo gestützt hat. Das Ehepaar trägt dem Richter das Wunder zu. Der sitzt gerade beim Mittagessen und glaubt ihnen nicht. Sein Kommentar: Der Sohn sei genauso lebendig wie das Hühnchen, das er auf dem Teller hat. Daraufhin fliegen die gebratenen Hühnchen auf und davon. Und seitdem werden die Hühner in der Kathedrale gehalten. Selbstverständlich, wohl aus Gründen des Tierschutzes, werden sie regelmäßig ausgetauscht.
Am Nachmittag mache ich Siesta im Innenhof des Klosters. Ich liege auf dem Rücken, schaue in den Himmel und höre zum allerersten Mal seit zehn Tagen Musik. Es ist mir als hätte ich die Erfahrung zum allerersten Mal. Ich bin völlig verzaubert, schließe die Augen und kann mir gerade gar nicht vorstellen, irgendetwas anderes zu tun. – Von wegen: Es passiert gar nichts!