Hinter Villafranca wartet ein knackiger Anstieg auf uns. Wir gehen noch vor Sonnenaufgang los, wie gewohnt ohne Frühstück. Es macht mir nichts aus. Ich bin es von zu Hause gewohnt, vor dem Frühstück aktiv zu sein. Nicht einmal der gewohnte Café con Leche fehlt mir. Ich schraube mich langsam, aber stetig den Berg hinauf und lasse Ricky vorneweg gehen. Ich bin ein wenig übellaunig, auch weil ich die nun vor uns liegende Strecke als endlos langweilig in Erinnerung habe.
Der Weg führt erst einmal durch einen Wald mit knorrigen Eichen. Oben angekommen erwartet uns eine breite Schneise, wie an einem Lineal entlang gezogen, rechts und links Bäume. Und das wird so die nächsten gut zehn Kilometer bleiben.
Die öde Strecke ist nicht ganz allein die Ursache für meine schlechte Laune. Am Morgen bin ich aus einem Alptraum hochgeschreckt. Ich habe von dem Mann geträumt, der mich in den vergangenen Monaten mit seiner Unentschlossenheit und seiner Angst vor Nähe durch die Hölle geschickt hat. Auf einmal ist das ganze Desaster wieder präsent. Und irgendwie übertrage ich es auf Ricky. Um aus diesem verirrten Gedankenkarussell auszusteigen, wage ich die Flucht nach vorn und erzähle Ricky von meinem Traum, der unglücklichen Liebesgeschichte und auch der Fremdheit und Traurigkeit, mit einem mir fast unbekannten Mann ein Zimmer zu teilen. Immerhin: Er kann es nachvollziehen, und die Traurigkeit hat auch er empfunden. Ich bleibe trotzdem auf Distanz zu ihm, muss mich sortieren.
Einzige Abwechslung auf dem eintönigen Weg sind ein Denkmal für im Bürgerkrieg erschossene Republikaner und ein Platz, an dem diverse Holzskulpturen stehen und Pilger sich mit Farbe, Malerei und Sprüchen verewigt haben. Als der Horizont durch die Bäume hindurch scheint und erahnen lässt, dass wir bald aus dem Wald heraus sind, kann ich es kaum glauben. Der Weg schien kürzer als erwartet.
In San Juan de Ortega nehmen wir uns Zeit für ein ausgiebiges Frühstück und eine Kirchenbesichtigung. Irgendwann möchte ich in der Herberge dort mal übernachten, der Ort übt auf mich eine gewisse Magie aus. Doch für heute ist es noch zu früh. Wir gehen weiter nach Agés und Atapuerca.
Hier treffen wir die zwei Kanadierinnen wieder, mit denen wir gestern das Essen geteilt haben. Ich komme mit einem jungen Polen ins Gespräch. Er wirkt etwas verloren, hat einen Riesenrucksack dabei. Im Ernst: mindestens doppelt so groß wie meiner. „30 Kilo“, sagt er. Da drin ist alles, was ihm noch geblieben ist nach dem Verlust seines Jobs und dem Ende seiner Partnerschaft. In Polen konnte er sich am Morgen nur noch mit Schnaps zum Arbeiten überreden. Dann: Job weg! Frau weg! Jetzt will er herausfinden, wer er ist und was er aus seinem Leben machen soll. Er macht einen aufgeräumten Eindruck. Kein Wunder: Von Polen bis hierher hat er schon 2.500 bis 3.000 Kilometer hinter sich gebracht. Ich wünsche ihm das Beste.
Hinter Atapuerca geht es bergauf über die Sierra de Atapuerca. Ich bin aufgeregt. Auf meinem Camino in 2003 hatte ich vorn dort oben einen atemberaubenden Blick auf Burgos. Ich freue mich so sehr auf die Stadt. Wir werden heute noch nicht hingehen, sondern gönnen uns morgen eine ganz kurze Strecke, um einen vollen Tag in Burgos zu bleiben. Der Himmel über uns zieht sich zu, dunkle Wolken ziehen auf. Und als wir oben am Gipfelkreuz ankommen, fallen schon die ersten schweren Tropfen.
Wir machen uns regenfest. Es ist windig und recht kühl. Eine Regenhose habe ich nicht, deshalb lasse ich die kurze Hose an. Bis Cardañuela sind es noch etwa 3-4 Kilometer. Wir kämpfen gegen den Wind an. Im Ort entscheiden wir uns für eine private Herberge rechts der Hauptstrasse. Dort gibt es Vier-Bett-Zimmer mit eigenem Bad. Flavio und Lorena haben gemailt, dass sie heute auch dort ankommen.
Hinter dem Empfangstresen, der gleichzeitig auch die Theke der Bar beherbergt, sitzt ein junger Spanier, so etwa um die dreißig Jahre alt, und verstört michein wenig durch seine fahrigen, unkoordinierten Bewegungen. Ich frage nach dem Vierer-Zimmer. Sein Spanisch verstehe ich kaum, versuche es mit Englisch, aber auch in der Sprache scheitert unsere Verhandlung. Endlich, nach gut zehn Minuten, finde ich heraus, dass wir das Vierer-Zimmer nur bekommen, wenn wir auch das Abendessen buchen. Eigentlich möchte ich nicht, denn ich hab die größten Bedenken, ob wir hier wirklich ein Essen bekommen. Ich habe den Verdacht, dass der junge Mann mit irgendetwas zugedröhnt ist. Seine Berechnungen des Zimmerpreises stimmen auch nicht. Er will zu wenig von uns. Ich versuche es ihm zu erklären. Erfolglos. Irgendwann gebe ich entnervt auf. Wir riskieren das Abendessen. Und wenn es nichts gibt, können wir immer noch woanders hin. Unterdessen fährt der junge Spanier mit dem Auto vom Hof.
Die Zeit bis zum Abendessen vertreiben wir uns heute mit gemeinsamem Musikhören. Ich lege mich neben Ricky, spiele ihm meine derzeitige Lieblingsmusik vor, Darshan von Ajeet Kaur, erzähle ihm davon, dass ich nebenbei Yoga unterrichte. Ein Moment der Erholung und der Zweisamkeit, der mir eine große Wohltat ist.
Als es Zeit wird zum Abendessen, sind wir überrascht darüber, wie liebevoll die Tafel gedeckt ist. Kunststück! Der junge Mann hat nicht gekocht. Die Herbergswirte sind zurück. Ich freue mich, wieder einmal mit so vielen Menschen aus unterschiedlichen Nationen an einer langen Tafel zu sitzen. Das ist echtes Camino-Feeling.