Tag 25: Montamarta – Granja de Moreruela (15.06.2022)

Es gibt auf jedem Camino einen Tiefpunkt. Der Zeitpunkt, an dem du die Komfortzone deutlich verlassen hast und dich an nichts mehr festhalten kannst. Der Punkt, an dem du endgültig loslassen und andere Wege einschlagen musst, um weiterzugehen. Auf diesem Weg deutet sich das für mich schon eine ganze Zeitlang an. Und heute habe ich einen mentalen Tiefpunkt erreicht.

Lange habe ich letzte Nacht zum Einschlafen gebraucht. Die Mücken haben mich immer wieder umsurrt, sich auf mir niedergelassen, mich aufgeschreckt. Irgendwann war ich wohl zu erschöpft. Oder aber die Mücken haben sich endlich auch zur Ruhe niedergelassen. Auf jeden Fall erwache ich früh am Morgen nach einem traumlosen Schlaf und fühle mich vollkommen fremd an diesem Ort mit den vielen Mücken, der kargen Ebene unter gnadenloser Sonne, die mich draußen erwartet, dem Staub der Piste und dem Schmutz wenig gepflegter Unterkünfte. Ich bin durch. Und noch nicht einmal die Aussicht auf das Gehen macht mir mehr Freude.

Um sechs Uhr morgens hält mich nichts mehr in der Herberge. Nicht einmal der Wunsch nach einer schnellen Tasse Kaffee. Nichts wie raus an die frische Luft. Raus und weg aus diesem gottverlassenen Nest. Die noch kühle Luft besänftigt mein aufgewühltes Gemüt ein wenig. Kaum raus aus Montamarta atme ich gierig die frische Morgenluft und bestaune die Tafelberge der Meseta. Im blauen Dunst schläft noch die Ermita de la Virgen del Castillo, ein Zeugnis der theologischen und philosophischen Bedeutung von Montamarta aus dem 16. Jahrhundert. Heute, so scheint es, beherrschen die Mücken den Ort. ‚Herrin der Fliegen‘ denke ich und verziehe zum ersten Mal heute die Mundwinkel zu einem vagen Lächeln.

Mein Martyrium setzt sich fort. Die steinige Piste gibt mir heute den Rest. Nach einer halben Stunde auf dem groben Schotter schmerzen meine Füße, vor allem mein zweiter linker Fußzeh. Immer wieder muss ich für ein paar Minuten pausieren, um mir Erleichterung zu verschaffen. Ich erfinde vielerlei unterschiedliche Schnürungen für meine Schuhe, die immer wieder eine Zeitlang Linderung verschaffen. Nur um dann wieder frustriert festzustellen, dass ich mir nicht helfen kann. Es gibt nur eine Möglichkeit, die Schmerzen zu umgehen: die Füße stillhalten. Es ist nicht einmal die Art von Schmerz, die man umgehen kann, indem man sich ein paar Tage ausruht. Was meinen Füßen zu schaffen macht, ist der grobe Schotter, der mich seit Salamanca verfolgt. Er wird mich begleiten, bis ich endlich drüben bin, in weiter Ferne zu meiner Linken. In Galicien. Dort liegt meine Hoffnung.

Als ich nach vier Stunden endlich die Häuser von Riego del Camino erreiche, kann ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Es ist erst halb elf Uhr morgens und doch schon unerbittlich heiß. Irgendwo muss es hier eine Bar geben. Ich möchte endlich sitzen, mich ausruhen. Halb blind von der Sonne irre ich durch den Ort und habe schon fast aufgegeben. Bis nach Granja ist es ja nur noch etwas mehr als eine Stunde. Da sehe ich hinter der nächsten Ecke ein paar Tische und Stühle und Gorazd, der mir entgegen lacht.

Mir ist nicht nach Fröhlichkeit. Ich werfe meine Stöcke mit Wucht auf den Boden und klage ihm mein ganzes Leid: Dass ich es nicht zum Lachen finde. Dass jeder Schritt mir unglaubliche Schmerzen verursacht. Dass ich die Nase voll hab. Dass dieser grässliche Weg in keiner Weise mehr Spaß macht.

Zum Glück nimmt Gorazd es nicht persönlich. Er hebt meine Stöcke auf und lehnt sie ordentlich an die Wand, bevor er mir einen Stuhl hinschiebt als Aufforderung, mich zu setzen. Bevor ich weiter ausfallend werde, gehe ich mir erst einmal drinnen einen Kaffee holen. Als mich die Frau hinterm Tresen mitleidig mit „Hace mucho calor“ („Heiß heute“) empfängt, verliere ich völlig die Fassung. ‚Wenn es nur die Hitze wäre‘, klage ich innerlich voller Selbstmitleid. ‚Was weiß sie denn von meinen Schmerzen!‘ Es gelingt mir, eine Kas de Limón und einen Café con Leche zu bestellen. Dann laufen mir Tränen über die Wangen. Die Frau schaut mich hilflos an. Es tut mir ein wenig leid, aber ich habe keine Kraft, es ihr zu erklären.

Zwei Getränke später bin ich soweit, die letzten anderthalb Stunden auch noch in Angriff zu nehmen. Mitten in der Mittagshitze erreiche ich Granja de Moreruela, nicht ohne mich ein weiteres Mal in dem Ort zu verlaufen. Zum Einchecken in die Pilgerherberge gehe ich erst einmal in die Bar und trinke gleich zwei eisgekühlte Limos. Francisco, Umberto und Gorazd sind auch schon längst in der Herberge angekommen. Mit Francisco gehe ich Mittagessen. Die Unterhaltung auf Spanisch strengt mich an, aber Francisco ist ein geduldiger Zuhörer. Das Mittagessen ist reichlich und ich lasse es mir einpacken. Für Umberto als Einlage für seine Brühe.

In Granja de Moreruela gibt es zwei Wegvarianten nach Santiago. Die eine führt geradeaus, immer weiter Richtung Norden bis Astorga. Die andere Variante zweigt als Camino Sanabrés von hier nach Westen ab. Zu Beginn dieser Reise hatte ich die für den nächsten Tag anstehende Entscheidung offen gelassen. Heute ist es ganz klar: Im Westen lockt das bewaldete Galicien, geradeaus ist noch mehrere Tage Meseta zu erwarten, bis die Plata dann schließlich in Astorga in den stark frequentierten Camino Francés mündet. Keiner meiner Pilgerfreunde möchte geradeaus weiter. Ich auch nicht.

Ich habe außerdem noch eine Verabredung in Ourense.

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