Viele gehen von Salamanca aus die lange Etappe von etwa 37 Kilometern bis El Cubo de Tierra del Vino. Ich habe mich entschlossen, heute eine kurze Etappe einzulegen. Längst schon habe ich mich von dem ursprünlichen Ziel verabschiedet, in den fünfeinhalb Wochen, die mir meine Auszeit von der Arbeit zum Pilgern zur Verfügung stehen, bis nach Cap Finisterre zu gehen. Bis jetzt liege ich einen Tag hinter meinem ursprünglichen Plan, einen weiteren werde ich heute verlieren. Oder … gewinnen. Je nachdem, wie man es sehen mag. Für mich ist der zusätzliche Tag ein Gewinn.
Meine kleine Camino-Familie ist noch weitgehend zusammen. Quinn hat sich in Salamanca ein AirBnB gegönnt und zumindest auch in der Stadt. Gabor scheint sich innerlich zwar allmählich zu verabschieden, auch wenn er es uns noch nicht gesagt hat. Es ist deutlich zu spüren, dass er eine Veränderung braucht. Aber für heute will er erst einmal seine neuen Schuhe einlaufen, die er sich gestern in Salamanca geleistet hat. Halbschuhe mit einem härteren Profil, die ihn auf der Grobschotterpiste nicht mehr jeden einzelnen Stein spüren lassen.
Für mich ist der Grobschotter trotz einer dicken Sohle ebenfalls grenzwertig. Mir macht der zweite Fußzeh links zu schaffen, der mal gebrochen war. Und der rechte Fuß ist geschwollen, was zwar keine Schmerzen verursacht, mich aber trotzdem beunruhigt.
Wir haben uns alle drei für die kurze Etappe nach Calzada de Valdunciel entschieden und schlafen uns heute erst einmal ordentlich aus. – Nun ja, Ausschlafen auf dem Camino im Sommer bedeutet schlafen bis 6:30 Uhr. Wir lassen uns ordentlich Zeit, ich gehe nochmal duschen. Gabor ist schon weg, als ich mich gemeinsam mit Gorazd auf den Weg mache. Wir frühstücken hervorragend in einem kleinen Café an einer Ecke außerhalb des touristischen Zentrums. Als wir uns nach meiner App richten, anstatt dem Pfeil zu folgen, werden wir gleich von einem Mann zurückgepfiffen. Er ist die Vía de la Plata auch schon gegangen. Und natürlich weiß er genau, von wo die Sonne kommen muss: „Von rechts! Denkt dran! Immer von rechts!“ ruft er uns nach und grinst. Ich lache unwillkürlich in mich hinein. Seit Tagen machen wir uns schon darüber lustig, wie dunkelhäutig wir auf der rechten Körperseite geworden sind. Allein an der Unregelmäßigkeit der Bräunung könnte man in Santiago schon erkennen, welchen Weg jemand gegangen ist. Wenn Du auf dem Francés warst, dann bist Du von hinten links gegrillt. Jedenfalls dann, wenn Du frühmorgens und nicht am Nachmittag läufst. Letzteres wagen wohl die wenigsten bei Temperaturen zwischen dreißig und vierzig Grad.
Es ist Samstagmorgen, auf dem Weg zur Stadt hinaus passieren wir Gruppen von Jugendlichen, die offensichtlich die Nacht durchgetanzt haben und nun geduldig auf die Öffnung eines Cafés warten. Der Weg führt kilometerweit an der Nationalstraße N-630 entlang, die auf der Vía immer in unmittelbarer Nähe ist, auch wenn man sie meistens nicht sieht oder hört und sich in der Abgeschiedenheit der Natur wähnt. An diesem Morgen sind schon viele Freizeitsportler und Spaziergänger unterwegs. Es könnte ein netter Tag werden, wenn da nicht die Schmerzen im linken Zeh wären, die mich hartnäckig plagen.
Ich versuche, den Fuß anders zu belasten und durch eine andere Schnürung den Zeh zu entlasten. Immer wieder bleibe ich stehen, und nach kurzer Pause beruhigt sich der Schmerz, nur um nach wenigen Minuten Gehens wieder heftig einzusetzen. Irgendwann füge ich mich frustriert in mein Schicksal und muss erkennen, dass das Gehen mir gerade absolut keine Freude mehr macht. Das allerdings ist bitter. Das hatte ich so nicht erwartet und auch noch auf keinem Camino erlebt.
Nach gut drei Stunden erreiche ich Castellanos de Villiquera. Dort beeindrucken mich die großflächigen Malereien an einigen Gebäuden, die Szenen aus dem Dorfleben zeigen. Es gibt auch eine Bar hier, was auf der Vía eine Seltenheit ist. Dankbar nehme ich die Gelegenheit für eine Pause wahr. Gabor und Gorazd sitzen auch bereits auf der schattigen Terrasse. Ich lasse meinen Rucksack vom Rücken fallen und plumpse auf den nächsten Stuhl. Dass unter dem Tisch ein Rinnsal Wasser, das den Biergarten kühlen soll, beinahe meine Sachen erreicht, bemerke ich nicht. Aber der aufmerksame Wirt greift beherzt nach meinem Rucksack und stellt ihn auf einen Stuhl.
Bei Café, Zischgetränk und ein paar Tapas erhole ich mich schnell von der Hitze. Gabor strahlt. Er ist glücklich mit seinen neuen Schuhen und wir freuen uns mit ihm. Nach einer Weile machen wir uns nacheinander wieder auf den Weg. Es reizt uns alle drei nicht, gemeinsam zu gehen. Jeder hat sein eigenes Tempo. Und jeder ist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
In Calzada de Valdunciel erwartet uns heute eine touristische Herberge in einem renovierten Natursteinhaus. Der junge Eigentümer hat es mit seinen eigenen Händen aufgebaut. Es gibt einen kleinen Garten, zwei moderne, geräumige Badezimmer, gute Betten, eine gut ausgestattete Küche und einen großen Esstisch. Heute werden wir endlich einmal gemeinsam kochen, wie wir das bereits seit zwei Wochen planen. Und es gibt ein Wiedersehen mit einer älteren Frau aus Australien, die ich zum ersten Mal bei den „Sklaven Mariae und der Armen“ in Alcuéscar getroffen habe. Sie hatte die Vía vor der Pandemie schon einmal abbrechen müssen. Jetzt hat sie wieder Schmerzen und fährt nun etappenweise mit dem Bus und bleibt füreinander zwei Tage, wo es ihr gefällt. Auch so geht Pilgern.