Nach einer ruhigen Nacht in einem Raum mit drei normalen Betten – keine Stockbetten – erwache ich heute von dem Klingeln einer Mikrowelle. Gabor – unser gerne lang schlafender Pilgerfreund – ist in der Küche zu Gange. Er hat sich für die lange Etappe nach Villanueva entschieden. Er will weg von uns – Gorazd und mir – oder auch aufholen zu unseren Pilgerfreunden – Quinn, Arth und Anna – die uns eine oder eine halbe Etappe voraus sind. Ich gehe davon aus, dass wir uns nicht mehr wiedersehen und verabschiede mich, wie es sich gehört, mit guten Wünschen für seinen Camino und seinen weiteren Lebensweg. Genau wie ich, läuft er einer neuen beruflichen Aufgabe entgegen.
Er hat dreiunddreißig Kilometer vor sich. Würde ich auch gern emachen, traue es mir aber nicht zu. Mein rechter Fuß ist geschwollen. Er schmerzt zwar nicht, aber die Schwellung verunsichert mich. Gorazd hat mir gestern auf dem Asphalt draußen Eis in einer Plastiktüte zerstoßen. Das hat gut getan. Nicht nur wegen der Kühlung meines Fußes, sondern auch wegen der Fürsorge. Diese Fürsorge, die mir von anderen auf dem Weg zuteil wird und die ich ebenfalls gerne weiter gebe, wenn es dran ist, führe ich immer wieder an, wenn mir Menschen zu Hause sagen, sie würden sich den Weg nicht zutrauen.
Niemand geht alleine. Nirgendwo! Weder auf dem Camino noch im wirklichen Leben.
Die ersten zwanzig Kilometer bis El Cubo de Vino sind geprägt von einer ebenen Landschaft mit einem Horizont aus Weizenfeldern, die sich ganz am Ende mit dem Himmel vermählen. Der Himmel ist hier trotz des Sonnenscheins längst nicht mehr so blau wie in Andalusien oder der Extremeadura. Die blassblau-graue Färbung hebt meine Stimmung nicht wirklich. Der Weg verläuft parallel zur N-630 und zur A-66. Nicht, dass hier groß Verkehr wäre. Aber die Aussicht nach vorne ist trostlos. Und der Weg ist steinig. Schotterpiste soweit das Auge reicht. Ich versuche nicht an meine schmerzenden Füße zu denken.
Gegen elf Uhr erreiche ich El Cubo de Vino. Gorazd erwartet mich bereits auf einer Bank am ersten Dorfplatz. Ich beeile mich, aus den Schuhen rauszukommen und stelle dabei fest, dass die Absätze meiner Lowas nach fünfhundert Kilometern komplett durchgelaufen bin. Ich bin fassungslos. Damit hätte ich nie gerechnet. Allerdings: Warum sollten die Schuhe den Weg besser wegstecken als meine Füße.
Gorazd reicht mir einen Keks. Wir beraten uns und einigen uns darauf weiterzugehen. Bis Villanueva sind es jetzt noch dreizehn Kilometer, also etwa drei Stunden. Es ist heiß, aber zum Bleiben ist es noch zu früh.
Wir beschließen, in der Bar von El Cubo noch eine kurze Pause einzulegen. Als wir rein wollen, kommt Gabor gerade raus. Man sieht sich also doch immer noch einmal. Irgendwie beruhigend. Draußen fährt der Bus vorbei, in dem vermutlich die Australierin sitzt, die heute nach Zamora fahren wollte. Meine Gedanken drehen kurz eine Runde mit dem Bus. Es ist ja wirklich verlockend. Aber wirklich ernsthaft denke ich noch nicht darüber nach, den Weg motorisiert zurückzulegen.
Nach dem Kaffee gehen Gorazd und ich wieder getrennte Wege. Wegen der Hitze und des Schotters wird es zäh. Kein Schatten in Sicht. Mücken umschwirren mein Gesicht und ich werde nach und nach richtig sauer. Verbissen versuche ich, an etwas anderes zu denken, aber es gelingt mir nicht. Der Weg führt auf eine Anhöhe und ich erhoffe mir dahinter … ja was? Aufzuwachen und festzustellen, alles wäre nur ein Traum? Eine schattige Oase? Jemanden, der mir meine Fluchtgedanken nimmt? So ein „Beam me up, Scotty!“ – Nichts davon! Hinter der Anhöhe öffnet sich lediglich der Blick in die nächste weite Ebene. Endlos.
Mich packt die Verzweiflung. Nach fünfhundert Kilometern habe ich komplett mein Ziel aus den Augen verloren. Was zum Teufel, frage ich mich, habe ich hier eigentlich verloren? Ich kann mir überhaupt keinen Reim darauf machen. Aber was, so kommt es mir in den Sinn, habe ich mir denn auch erhofft. Daß sich irgendwann der Himmel auftut, um mir Ausblick auf eine große Vision zu geben? – Ja, um ehrlich zu sein: Das wäre das mindeste! – Stattdessen stolpere ich auf Grobschotterpisten mit Schmerzen voran, verfluche den Tag, an dem ich beschlossen habe, diesen Weg zu gehen, und fühle mich die meiste Zeit über mutterseelenallein. Und trotzdem: Irgendwo ganz tief im Inneren, gibt es einen Funken Hoffnung, dass nicht alles vergeblich ist. ‚Einfach weiterlaufen‘ denkt es in mir. Mit jedem Schritt kann sich die Perspektive ändern.
Hinter der nächsten Anhöhe wartet eine weitere Ebene. Doch da hinten, ganz entfernt, ist ein Dorf zu sehen. Ich schätze, bis dorthin werde ich noch eine Stunde brauchen. Eigentlich hätte ich erwartet, jeden Moment anzukommen. Erst hinter der nächsten Biegung erkenne ich: Das weit entfernte Dorf ist nicht Villanueva. Denn jetzt habe ich den Blick frei auf mein Tagesziel. Keine zwanzig Minuten später erreiche ich endlich Villanueva.
Es ist kurz vor drei Uhr nachmittags. Ich habe einen Bärenhunger und beeile mich, rechtzeitig zur einzigen Bar am Ort zu kommen, um noch ein Mittagessen zu ergattern. Etwas später und ich hätte vor acht Uhr abends nichts mehr bekommen. Gorazd und Gabor haben es sich vor der Kneipe schon mit kühlen Getränken gemütlich gemacht. Ich stürze in die Bar und ordere rasch noch etwas.
Es gibt Pommes, Salat und etwas, das ich nicht verstehe. Die Wirtin wiederholt es mehmals, aber die Hitze hat mir offensichtlich den Verstand ausgebrannt. Der Wirt hinterm Tresen rettet: Er legt die Oberarme an und lässt seine Hände durch die Luft flattern, begleitet von einem wackelnden Hinterteil und einem spanischen Hahnenkrähen. Das ist so komisch, dass ich trotz meiner Erschöpfung Tränen lache.
Ich wundere mich jedesmal aufs Neue, wie schnell man doch die Strapazen des Weges vergisst!
Hey🙋🏻♂️
Ich lese deine Geschichten hier mit großem Interesse und mit vielen Rückblenden zu meinem De la Plata 2019.
Die Gedanken sind schön, „mit dir“ den Camino nochmal zu durchleben… als Bilder im Kopf. Danke dafür!
LG Dieter
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Hey Dieter, es freut mich sehr, dass meine Gedanken Deinen eigenen Weg noch einmal beleben. Vielen Dank für Deinen Kommentar.
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