Tag 20: San Pedro de Rozados – Salamanca (10.06.2022)

Manchmal verändern sich die Dinge, ohne dass man vorher Anzeichen dafür wahrnehmen kann. Plötzlich beginnen Konstellationen sich aufzulösen, von denen man geglaubt hat, sie würden einen unverrückbar für immer – oder wenigstens für einen Camino – begleiten. Doch auf dem Weg nimmt man Veränderung leicht. Ein Wegabschnitt von eintausend Kilometern ist eben sehr viel überschaubarer als das ganze komplizierte Leben.

Der Tag heute beginnt wie immer: Gegen frühen morgen, also etwa gegen fünf Uhr, wird der Schlaf der kleinen Pilgergemeinschaft von etwa acht Personen, die wir in diesem Schlafsaal sind, unruhiger, Bettgestelle quietschen unter den Drehungen und ich beschließe aufgrund der gemeldeten Temperaturen in den oberen Dreißigern, aufzustehen und so schnell wie möglich das Weite zu suchen.

Im Dunkeln verknotet sich die Schlaufe meines Handtuchbeutels, den ich immer am Bettgestell befestige, weil ich darin Brille, ein Taschentuch und Stirnlampe aufbewahre. Im Allgemeinen sitzen die Griffe, aber heute kann ich den Knoten im Dunkeln erst einmal nicht auflösen und scheine die Kordel immer noch mehr zu verwursteln. Nach einer gefühlten Ewigkeit und einigen inneren Flüchen kann ich den Beutel endlich vom Metallgestell lösen.

In dem kleinen verglasten Vorraum zur Herberge gibt es kein Licht. Aber die Straßenlaterne leuchtet durch die Scheiben. Sogar hier sparen die Herbergsbetreiber, die auch das teurere Landhotel führen, bares Geld. Ich bin sauer und heute offensichtlich mit dem falschen Fuß aufgestanden. Im Moment habe ich genug von angeranzten Herbergen und sehne mich nach etwas Ordnung und vielleicht auch einfach nach dem Gefühl, willkommen zu sein.

Im Dunkeln gehe ich raus und erreiche das nur vier Kilometer entfernte Morille. Wäre ich gestern auf der Landstraße geblieben und nach rechts abgebogen anstatt nach links, wäre ich genauso schnell hier gewesen wie in San Pedro und statt der runtergekommenen Bleibe eine vielversprechende Herberge im Steinhaus zum Bleiben gehabt. Der Umweg über San Pedro war völlig überflüssig. Weiß der Himmel, warum der Muschelweg über San Pedro führt.

Ich frage mich, warum ich mir solche Gedanken mache. Im allgemeinen hinterfrage ich die Wegführung nicht. Aber an diesem Tag, an dem nur dreiundzwanzig Kilometer anstehen, muss ich feststellen, dass die kurze Strecke und die Aussicht nach Salamanca zu kommen, nicht wirklich Freude auslöst. Ich habe das Gefühl, irgendwie festzustecken, bin unzufrieden, habe heute überhaupt keine Lust aufs Gehen. Und was beinahe noch schlimmer ist: Ich habe keinen Schimmer, was ich eigentlich auf diesem Weg suche. Die Sinnhaftigkeit des ganzen Unternehmens ist mir irgendwo abhanden gekommen.

Nach dem Verlassen der letzten Dehesa-Landschaft und einer guten Stunde Gehens über Grobschotterpisten taucht irgendwo in der Ferne eine grüne Oase auf. Dort will ich eine Pause einlegen, denn die Sonne und auch der schwierige Untergrund machen mir zu schaffen. Ich habe Glück: Die Oase entpuppt sich als der kleine Weiler Miranda de Azán und hält eine schattige Bank bereit. Ich befreie meine Füße von den Schuhen. Beide Socken sind durchlöchert. Ich hatte sie unterwegs schon einmal notdürftig geflickt. Aber jetzt mache ich kurzen Prozess und werfe sie in den neben mir stehenden Abfalleimer. Die Aussicht auf die Stadt macht mir die Entscheidung leicht. Ich brauche dringend ein oder zwei Paar neue Socken.

Ich warte eine ganze Weile an dem schattigen Ort in der Hoffnung, dass meine kleine Camino-Familie – Gabor und Gorazd – endlich aufschließen. Wir haben uns in eine Privatpension eingebucht und sollten möglichst gemeinsam in Salamanca ankommen. Aber trotz des freien Blicks über die Ebene ist weit und breit keine Spur von den beiden. Frustriert ziehe ich meine Schuhe an und marschiere weiter. Eine halbe Stunde fühlt sich der linke Schuh eng an. Ich lockere die Bindung, finde aber keine Erleichterung. Genervt werfe ich den Rucksack in den Staub und ziehe den Schuh aus. Der Fußrücken ist seltsam geschwollen. Ich bin beunruhig. Was, wenn meine Füße nicht mehr wollen? Obwohl ich gerade keine Lust aufs Gehen habe, wäre es für mich das allergrößte Übel, wenn ich jetzt abbrechen müsste. Ich schlüpfe wieder in den Schuh hinein und mache mich – ziemlich verunsichert – wieder auf den Weg.

Nach einer weiteren halben Stunde kommt endlich eine Nachricht von Gorazd. Er macht gemeinsam mit Gabor gerade Pause und schickt mir ein Foto meiner Socken, die auf dem Rand des Mülleimers bei Miranda de Azán liegen. Die beiden sind also nicht sehr weit hinter mir. Ich trödele ein bisschen und gehe extra langsam, obwohl ich eigentlich dringend aus der Sonne müsste. Beim Pilgerkreuz etwa fünf Kilometer vor der Stadt lege ich noch einmal eine Pause ein. Irgendwo ganz in der Ferne sehe ich zwei Gestalten sich nähern. Das müssen Gorazd und Gabor sein. Doch es ist so heiß, dass ich beschließe weiterzugehen

Bei den ersten Gebäuden der Stadt finde ich endlich ein wenig Schatten auf einer Bank und beschließe, auf Gorazd und Gabor zu warten. Als sie nach einer Dreiviertelstunde immer noch nicht da sind, rufe ich Gorazd an. Er ist schon mitten in der Stadt. Ich bin ziemlich sauer. Wie um alles in der Welt hat er das gemacht? Ich hatte den Weg doch die ganze Zeit im Blick. Aber offenbar hat Gorazd einen anderen Weg genommen.

Gerade als ich meinen Rucksack schultere kommt Gabor den Weg entlang. Gemeinsam suchen wir die Wegmarkierung. Aber Fehlanzeige! Schließlich helfen wir uns mit der bekannten Karten-App so lange, bis wir endlich auf der Puente Romano sind. Dort finden wir uns dann endlich zu dritt zusammen.

Die Ankunft an der Kathedrale lässt alle Schwierigkeiten und Missgeschicke des Tages zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen. Ehrfürchtig lassen wir uns vor dem Portal nieder, ein jeder staunt für sich und ist mit eigenen Gedanken beschäftigt. Es dauert eine lange Zeit bis wir uns von der friedlichen Szene trennen und unser Quartier aufsuchen.

Nicht nur bei mir scheint sich seit heute ein bisschen etwas verändert zu haben. Auch Gabor scheint heute sehr mit sich beschäftigt zu sein. Er wirkt still und in sich gekehrt. Direkt angesprochen, reagiert er einsilbig, fast ein wenig genervt. Es scheint, als würde er bald die Entscheidung treffen, allein weiterzugehen. Aber noch scheint er nicht bereit dafür. Gorazd hat es auch bemerkt. Wir wissen beide, dass wir uns vielleicht bald von Gabor verabschieden müssen. Aber es ist in Ordnung so.

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