An diesem Tag steht die sogenannte Königsetappe der Vía de la Plata an: Achtunddreißig Kilometer ohne einen Laden, eine Bar oder auch nur einen Brunnen. Nada. Freilich: Dazwischen gäbe es noch nach etwa 26 Kilometer den rettenden Abzweig zum Hostal Asturias, das mit einem Shuttle-Service lockt. Aber geschenkt! Sofern mich meine Füße tragen und es meine Gesamtverfassung zulässt, möchte ich möglichst zu Fuß unterwegs bleiben.
Seit Tagen bereite ich mich innerlich auf diese Strecke vor und habe gehörigen Respekt. Ein Blick auf die Wetter-App verrät: Es wird heute nicht ganz so heiß. „Nur“ 34 Grad. Es könnte schlimmer sein. Und trotzdem: Für achtunddreißig Kilometer benötige ich gute zehn Stunden. Selbst wenn ich um 5 Uhr die Herberge verlasse, werde ich nicht vor 15 oder gar 16 Uhr am Nachmittag ankommen. Und bis dahin wird die Tagestemperatur auf dem Höhepunkt angelangt sein.
Ich habe heute drei Liter Wasser dabei, was mir bereits den Einstieg in die lange Etappe erschwert. Mein Rucksack fühlt sich viel zu schwer an. Ich beeile mich, den ersten Liter so schnell wie möglich zu trinken, und hoffe, ich kann das Wasser halten wie ein Kamel.
Der Weg führt durch die wunderschöne Dehesa-Landschaft. Ich hätte die Weidetore zählen sollen, die ich an diesem Tag passiert habe. Es mögen so zwischen fünfzehn und zwanzig gewesen sein.
Markanter Mittelpunkt nach etwa zwanzig Kilometern ist heute der Arco de Cáparra, das vierbogige Tor einer niedergegangenen römischen Stadt an der wichtigen Handelsstraße zwischen Astorga und Melide. Die Ausgrabungsstätte kann man normalerweise besichtigen, und zwar an wohl jedem Tag außer montags. Dann würde man auch einen Getränkeautomaten dort finden, der ein Zischgetränk bereithielte. Aber heute ist Montag. Es bleibt also nichts als eine Fotosession mit Peregrino Gorazd und ein paar Radfahrern, die sich zur selben Zeit dort einfinden.
Ich muss mir erst einmal die Schuhe ausziehen, weil meine Socken in den Lowas qualmen. Gorazd gesellt sich dazu und der Österreicher Georg, dem ich vor etwa einer halben Stunde zum allerersten Mal in meinem Leben begegnet bin, als er im Schatten eines mageren Busches eine Banane verdrückt hat, kann sich einen unaufgeforderten besserwisserischen Kommentar nicht verkneifen. Ganz offensichtlich ist er ein klarer Vertreter derjenigen, die niemals – unter gar keinen Umständen – während einer Tagestour ihre Schuhe ausziehen würden aus Angst, sie kämen hinterher nicht mehr hinein. Unaufgeforderte Ratschläge gestatte ich in der Regel nur Menschen, die mich wirklich gut kennen. Ich bemerke spitz, dass es mir noch nie geschadet hätte, die Schuhe auszuziehen, und rolle innerlich die Augen nach oben. – Ja, glaubt der denn, das wäre mein erster Camino! – Und wundere mich gleich darüber, dass mich dieser im Grunde unbedeutende Zwischenfall so auf die Palme bringt.
Nach der Mittagsrast gehen Gorazd und ich, wie immer, getrennt weiter. Er lässt mir den Vortritt hat mich aber auch schon nach vier Kilometern wieder ein- bzw. überholt. Der Weg führt durch eine Ebene, kleine Bächlein mit Trittsteinen, damit man trockenen Fußes hinüber kommt. Das ist um diese Jahreszeit und in diesem Sommer freilich überhaupt nicht notwendig. Von Wasser keine Spur. Der frühe Nachmittag heizt sich allmählich auf. Und jetzt wird das Gehen wieder so richtig zäh. Irgendwann taucht auch unser ungarischer Pilgerfreund Gabor auf, überholt mich, ich dann wieder ihn, dazwischen bin ich nochmal eine halbe Stunde lang dicht hinter Gorazd. Und dann zieht uns die Erschöpfung und die Mittagshitze auseinander. Jeder kämpft ein bisschen für sich, ohne die anderen völlig zu vergessen.
Ich streife mir als Sonnenschutz meine weißen Ärmlinge über. Ein Blick in meine Trinkblase gibt mir die Gewissheit, dass ich noch genügend Wasservorräte habe. So eine Trinkblase hat zwei entscheidende Vorteile: Erstens kann ich zwischendurch immer trinken, ohne den Rucksack absetzen zu müssen. Und zweitens ist der Trinkbehälter zwischen meinem Rücken und dem Rucksack so gut isoliert, dass das Wasser auch bei hohen Außentemperaturen eine angenehme Trinktemperatur behält. Trotzdem fühlt sich meine Zunge dick an. Ich lechze nach etwas Kaltem, das meinen aufgeheizten Körper runterkühlt. Am Ende einer mehrere Kilometer langen Asphaltstraße lese ich an einem Haus „Jesús confio en tí“, und interpretiere in Ermangelung verlässlicher Spanisch-Skills und angesichts meiner Erschöpfung nach zwischenzeitlich dreißig Kilometern in den Beinen, dass Jesus an mich glaubt. Diese Fehlübersertzung ist mein Glück; denn mit meinem eigenen Glauben käme ich gerade nicht mehr sehr weit. Dass jemand anderes mir das Ankommen heute noch zutraut erscheint mir sehr tröstlich und gibt mir Kraft und Zuversicht.
Die letzten acht Kilometer sind eine einzige Quälerei. Gorazd ist voraus, vielleicht nicht sehr weit, aber uneinholbar. Mit Gabor wechsle ich mich in der Führung ab und überlasse ihm bei der letzten Begegnung augenzwinkernd den von mir angewärmten Sitzstein.
Eines ist tröstlich: Ich weiß, dass ich noch Kräfte mobilisieren könnte, wenn ich mich lange genug ausruhen würde. Wasser hätte ich noch. Aber ich will eigentlich nichts als ankommen. Ein kaltes Getränk, eine Dusche, einen kühlen Innenhof. Also zwinge ich mich immer weiter. Voran. Ultreia.
Als ich endlich die ersten Häuser von Aldeanueva erreiche, muss ich mich aus Erschöpfung erst einmal auf einem Mäuerchen in den Schatten setzen, bevor ich die letzten paar hundert Meter bis zur Herberge zurücklege. Als ich die Tür zur rettenden Unterkunft aufstoße, stelle ich fest, dass Gorazd auch eben erst angekommen sein muss. Er schiebt mir den Stuhl an der Rezeption unter den Po, und ich lasse mich einfach stumpf daraufplumpsen. Jemand besorgt mir aus dem Getränkeautomaten ein Zischgetränk. Es dauert einige Minuten, bis ich mich soweit erholt habe, dass ich den üblichen „Haushalt“ machen kann: Bett beziehen, Duschen, Wäsche waschen.
Immer wenn das getan ist, sind die Beschwernisse des Tages auch schon so gut vergessen.
Ja das kenne ich auch von „meinem Jakobsweg: Unglaublich, wie schnell die Strapazen des Tages mit der Dusche weggeschwemmt werden. Buen Camino!
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