Pfingstsonntag. Der Beginn meiner dritten Woche auf der Vía de la Plata. Allmählich finde ich den Rhythmus. Jetzt erst. Aber so ist das immer. Drei Tage Pilgern können wunderbar erholsam und entspannend sein. Selbst ein Tag draußen reicht oft aus. Aber wirklich in den Groove komme ich erst nach zwei Wochen. Dann, wenn ich alle Gedanken an zu Hause losgelassen habe und nur noch das Heute zählt.
Während der ersten Stunde meines Weges sieht das heute so aus: Der Weg aus Cañaveral hinaus führt erst einmal den Berg hinauf. Es ist stockfinster, die Stirnlampe funzelt diffuses Licht über den Weg. Es macht aber auch nix, weil die Beschilderung, wie mir später andere Pilger berichten, die nicht im Finsteren den Weg suchen mussten, sowieso nicht wirklich hilfreich ist. So ist das öfter auf der Vía. Vermutlich hat während der Pandemie auch die Pflege der Wege hier in Spanien gelitten. Ich bin froh, dass ich mir über Komoot vorsorglich einige Etappen heruntergeladen habe, die nicht immer ganz Camino-getreu sind, aber auf jeden Fall die ungefähre Richtung anzeigen, solange man sich nicht am Stand der Sonne orientieren kann oder man nicht einfach zu erschöpft ist, sich noch auf den Weg zu konzentrieren.
Der Duft des Pinienwaldes steigt mir in die Nase, und wieder einmal bin ich erstaunt, wie wenig die Natur auf der Vía über den Geruchsinn wahrnehmbar ist. Es fehlt einfach die Feuchtigkeit. Aber heute ist es anders, hier und da gibt es sogar ein wenig Nebel. Die Gerüche hellen mein Gemüt auf, und auf einmal singt alles in mir und singt aus mir heraus. Ich bin ganz allein auf dem Weg, weit und breit niemand, also kann ich dem völlig ungeniert nachgeben. Ich habe siebenunddreißig Kilometer Weg vor mir und es erscheint mir nicht die Bohne mühsam. Ein plötzliches Glücksgefühl.
Einige Kilometer vor Galisteo, meinem heutigen Zwischenziel nach etwa sechsundzwanzig Kilometern, werde ich vom leisen Gluckern fließenden Wassers begleitet. Der Weg führt an einem Kanal entlang. Die Natur wandelt sich in eine grünere Landschaft als bisher. Auch das belebt und beflügelt mich. Ich lausche dem geschwätzigen Strom und verlaufe mich prompt auf den letzten zwei Kilometern vor Galisteo. Mit einem lässigen Achselzucken kehre ich um und sehe in der Ferne gerade noch, wie der steile Hügel, hinter dem der Ort liegen muss, die polnischen Pilgerfreunde Arth und Anna verschluckt.
Auf Galisteo zuzugehen hat etwas Erhabenes. Man geht über eine Anhöhe und anschließend pfeilgeradeaus auf den Ort zu, der sich in die Ebene duckt. Darüber ragt hinter einer intakten Stadtmauer spitz der Kirchturm hervor.
Am Fuß des Ortes gönne ich mir eine Pause. Es ist mal wieder sehr heiß, so um die 37 Grad. Gierig nehme ich einen großen Schluck einer kalten Limo. Meine Speiseröhre ist darauf nicht vorbereitet und reagiert mit einer Art Krampf. Ich brauche einige Momente, um mich von dem darauf folgenden Hustenanfall zu erholen.
Nach einer Weile holt mein slowenischer Pilgerfreund Gorazd auf und leistet mir ein bisschen Gesellschaft. Wir werden uns heute Abend in der Herberge Senora Elena treffen, wo ich mit Hilfe einiger bruchhafter Spanischkenntnisse für ihn ein Bett gleich mit reserviert habe. Das Reservieren ist auf diesem Weg in der Regel nicht notwendig. Aber an diesem Pfingstwochenende sind viele spanische Fahrradfahrer unterwegs und Carcaboso ist die letzte Station vor der 38 Kilometer langen Königsetappe am nächsten Tag; die Anzahl der Betten in dem „Basislager“ scheint begrenzt.
Während ich die letzten elf Kilometer von Galisteo nach Carcaboso bei Gluthitze auf einer Asphaltstraße im Schneckentempo zurückzulege, überholen mich etwa auf der Hälfte des Weges auch schon sechs Radfahrer.
Die Straße will mal wieder kein Ende nehmen. Hinter jeder Kurve öffnet sich der Blick auf einen weiteren Kilometer, immer an der Landstraße entlang. Als ich endlich die rettenden Häuser von Carcaboso erreiche, ist es bereits weit nach drei Uhr nachmittags. Die Aussicht auf ein Mittagessen ist damit auch zunichte. Aber immerhin wird es wohl bald eine Dusche geben.
Die Tür der Albergue Elena steht weit offen. Ich rechne fest damit, dass Gorazd bereits angekommen ist. Aber in der Herberge ist keine Menschenseele. Ich wähle die Telefonnummer, unter der ich gestern reserviert habe. Der Hospitalero sagt mir, welches Bett ich beziehen soll; in anderthalb Stunden will er mit dem Stempelkissen vorbeikommen. Ich packe erst einmal meine restlichen Lebensmittel in den Kühlschrank und mache mich dann auf die Suche nach meinen Pilgerfreunden. Irgendwo müssen die doch abgeblieben sein.
Plötzlich stehen Arth und Anna vor mir, wenig später auch Gorazd. Die beiden Polen haben nichts reserviert. Ich rufe für sie nochmal den Hospitalero an, und dann wird es erst einmal hektisch. Denn er erwartet noch die sechs Radfahrer, die wahrscheinlich in irgendeiner Bar gerade ihr Mittagessen verdauen, Quinn und ihren Freund aus Taiwan. Und damit ist die Herberge voll, also kein Platz für Arth und Anna. Die beiden würden sich auch mit einem Bett zufrieden geben. Aber unser Hospitalero ist ein echter Trouble-Shooter. Er disponiert hin und her, gruppiert die Spanier nochmal um. Und zum Schluss gibt es dann doch noch für jeden einen Platz.
Nicht nur, dass er uns alle noch untergebracht hat. Im Erdgeschoss des Nebenhauses öffnet er auch nochmal einen Raum, der gefüllt ist mit kühlen Getränken und Essen. Nur ein frisches Brot hat er nicht mehr, schenkt uns aber eines vom Tag zuvor. So können wir uns für die lange Etappe wenigstens noch ein Sandwich zubereiten. Denn morgen wird es unterwegs nichts geben. Gar nichts. Nada.
Ich leiere dem Wirt der benachbarten Bar für uns Pilger noch ein paar Nudeln mit Tomatensauce außerhalb der Essenszeit raus. Wir müssten sonst noch drei Stunden auf ein Abendessen warten. Dass wir hungrig sind, hat ihn überzeugt. Wie nett und überaus flexibel! Das gibt es auch nicht überall. – Ein Bett, ein Dach über’m Kopf, nette Gesellschaft und eine warme Mahlzeit. Mehr braucht es heute nicht zum Glücklichsein.
Hey🍀 Ich bin die de la Plata 2018 gegangen. Es ist erstaunlich. Wenn ich deine Berichte lese…. Ich erinnere mich an unglaublich viele Orte und Landschaften die du beschreibst, als wäre es gerade einmal ein Monat her, dass ich selbst dort war. Fünf weitere Caminos habe ich inzwischen absolviert. Und trotzdem scheint es so, als ob ich jeden Meter jedes Caminos noch kennen würde.
Habe eine wunderbare Zeit! Buen Camino👍🍀
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Hey DiDo, danke. Freut mich sehr, dass die Erinnerung noch so lebhaft ist. Ich bin zwischenzeitlich auch wieder zu Hause und arbeite nach und nach meinen Weg auf. Aber auch mich erstaunt es, wie schnell ich – nach mittlerweile dreieinhalb Monaten – wieder mitten auf dem Weg bin.
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Hallo Katja, vielen Dank für die wunderbaren Etappenberichte, die ich mir grad am Stück reinziehe. In mir wächst der Wunsch, den Camino noch einmal zu laufen.
Nebenbei: Du hast oben geschrieben „Der Weg aus Carcaboso hinaus“ statt Cañaveral.
Liebe Grüße Achim
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Hallo Achim, danke für Dein aufmerksames Lesen. Hab den Fehler gerade korrigiert. Es freut mich, dass Dir das Lesen Lust auf noch einen Camino macht. Danke fürs (Mit-)Teilen. Liebe Grüße, Katja
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