Tag 12: Alcuéscar – Cáceres (02.06.2022)

Hospitalero Emilio Iglesias vom Orden der „Sklaven Mariae und der Armen“ hat Wort gehalten. Als ich wie vereinbart um punkt 5:30 Uhr an seine Tür klopfe, ist er schon wach und begleitet mich an die Pforte, um mir aufzuschließen. Nach vielfacher Umarmung und feuchten Küssen auf die Wange segnet er mich und streicht mir symbolisch ein Kreuz auf die Stirn. Ich habe den starken Verdacht, dass dieser Überschwang nicht religiös motiviert ist, und schüttle mich ein bisschen, während ich schnellstmöglich ins Dunkel der Nacht eintauche.

Die endlose Weite der Vía de la Plata kann einen zuweilen überfordern, aber sie bringt auch unweigerlich eine Schärfe der Sinne für Details, weil man sich an irgendetwas festhalten möchte, um angesichts der Unendlichkeit nicht ins Bodenlose zu fallen. Ich bin an diesem zwölften Morgen meiner Pilgerreise zuerst einmal auf das Tasten und das Hören zurückgeworfen, weil es um 5:30 Uhr noch stockfinster ist. Nicht einmal der Geruchsinn wird angesprochen. Für die wunderbaren Morgendüfte von Erde und Gras, die einen sonst um diese Tageszeit begleiten, fehlt es hier in dieser Jahreszeit an Feuchtigkeit. Mit Bedacht setze ich langsam einen Schritt nach dem anderen auf; meine Stirnlampe ist etwas funzelig, ich habe immer noch nicht die neuen Batterien eingesetzt, die ich nun schon seit fünf Tagen mit mir herumtrage.

Nach etwa zwei Stunden durch die savannengleiche Landschaft mit friedlich grasenden Kühen und Schafen trifft der Weg wieder auf die Calzada Romana. Und damit finde ich auch wieder die Fußspuren meines Pilgerfreundes Gorazd, mit dem ich mich heute in Cáceres treffen möchte. Für mich bedeutet das eine lange, Respekt-einflößende Tagesetappe von achtunddreißig Kilometern.

Weitere anderthalb Stunden später trifft der Weg bei Aldea del Cano auf die Autobahn und eine Raststätte, in der sich an diesem Morgen jede Menge Brummi-Fahrer einfinden, die mich neugierig mustern. Normalerweise lasse ich meinen Rucksack vertrauensvoll vor der Bar stehen, weil ohnehin niemand das schwere Teil schultern und sich damit vom Acker machen möchte. Hier ist mir das zu riskant. Wie schnell ist so ein Rucksack ins Auto geladen.

Voll beladen mit Rucksack und Stöcken versuche ich das Tablett mit meinem Frühstück ohne größeren Schaden durch den Mückenschutz an der Kneipentür ins Freie zu balancieren. Ein Fernfahrer kommt mir zur Hilfe. Draußen stoße ich fast mit dem Engländer Mark zusammen. Mark schläft immer draußen in einer von ihm selbst konzipierten Hängematte mit jeder Menge Innentaschen, in denen er seine Habseligkeiten in der Nacht aufbewahrt, und der Möglichkeit, sie nach oben zu schließen, so dass er sich darin einwickelt wie in einen Kokon. Ich passe auf seinen Rucksack auf, während er sich drinnen ein reichhaltiges Frühstück besorgt. Nächte draußen zu verbringen erfordert mehr Brennstoff.

Ich überlasse Mark seinem Frühstück und setze meinen Weg nach Valdesalor fort. Bis dorthin sind es von der Raststätte aus elf Kilometer. Auf dem letzten Stück sehe ich weit voraus einen Pilger gehen. Es könnte Gorazd sein, aber die Entfernung ist einfach zu weit; gut und gerne sind es drei Kilometer, die mich von dem Pilger da vorne trennen.

Die Herberge von Valdesalor wäre eine schöne Option für die Nacht gewesen. Gegenüber gibt es einen Park mit einem kleinen Springbrunnen, der munter vor sich hin plätschert. Eine Oase in der staubtrockenen Extremadura. Aber ich habe ja eine Verabredung, also suche ich mir eine Bar, kaufe mir gleich zwei große Flaschen Wasser, um meine Vorräte aufzufüllen. Und wieder kommt Mark um die Ecke. „Kann ich mal dein Schuhprofil sehen?“, will er wissen. Ich lache. Er beschäftigt sich also auch mit Foot-Prints. Neben den Wegmarkierungen geben die Fußbdrücke eine weitere Orientierung, die aber auch mal in die Irre führen kann, wie ich es gestern erlebt habe. Man entwickelt geradezu eine Begabung für das Fährtenlesen, gibt sie einem doch meistens einen klaren Hinweis darauf, mit wem man möglicherweise am Abend den Schlafsaal teilen wird.

Derweilen schwindet die Hoffnung, Gorazd am Abend in Cáceres zu treffen, weil ich während der restlichen Strecke von Valdesalor nach Cáceres nicht ein einziges Mal sein markantes Schuhprofil auf der staubigen Piste ausmachen kann. Ich habe zehn Kilomter lang Gelegenheit, mich damit abzufinden, dass wir uns möglicherweise gar nicht wieder begegnen. Als ich gerade meinen Frieden damit gemacht habe, kommt plötzlich eine Textnachricht von Gorazd, der wissen will, wo zum Teufel ich bleibe. Wieder völlige Verwirrung. Entweder ist er geflogen oder er hat die Schuhe gewechselt.

Ich habe mich heute für ein Einzelzimmer im Hospital Hernan Cortes entschieden, etwa zehn Minuten zu Fuß von der Plaza Mayor entfernt und sehr empfehlenswert. Man wird dort sehr freundlich empfangen, das Haus ist sauber und ruhig und einfach günstig gelegen.

Als ich mich später mit Gorazd auf der Plaza Mayor treffe, gesellt sich auch der Engländer Mark dazu. Wie sich herausstellt, ist er Reisejournalist und hat für BBC und The Daily Telegraph geschrieben. Während der Pandemie musste Mark Eveleigh sich umorientieren und schreibt nun Bücher und leitet Travel Writing Retreats. Sein Weg von Gibraltar bis an den nördlichsten Punkt Spaniens, Estaca de Bares, steht im Zusammenhang mit seinem nächsten Buchprojekt.

Cáceres ist eine wirklich sehenswerte Stadt von knapp 100.000 Einwohnern mit einer intakten historischen Altstadt, die frei ist von Souvenirläden und aufdringlichen Werbeplakaten. Die Stadt blickt auf eine wechselhafte Geschichte zurück: erst römische Kolonie, dann zu völliger Bedeutungslosigkeit verdammt unter der Herrschaft der Westgoten, später Aufschwung unter arabischer Herrschaft, Rückeroberung durch die Spanier, Wiederbesetzung durch die Mauren und endgültiger Anschluss an die Spanische Krone.

Doch wie es nun einmal ist auf dem Camino. Als Pilgerin folge ich dem Ruf „Ultreia – Immer weiter“, und so gelingt mir außer einer kleinen oberflächlichen Besichtigungstour kein tieferes Eintauchen in die Stadt. Ich nehme mir vor, im nächsten Jahr wiederzukommen und mir neben Cáceres auch einige sehenswerte Orte der Extremadura genau anzuschauen.

Für heute bin ich erst einmal ganz glücklich, dass ich gute Gesellschaft habe. Und allmählich formiert sich ein ewig wiederkehrendes Thema, das mich die ganze Vía de la Plata über begleiten soll: Die Angst, abgehängt und zurückgelassen zu werden. Es ist immer wieder spannend, welche Themen so ein Weg aufbringt.

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