Tag 4: Almadén de la Plata – El Real de la Jara (25.05.2022)

Im Leben wie auf dem Camino begegnet man Menschen, von denen man sich wünscht, dass sie einem so lange wie möglich in Freundschaft erhalten bleiben. Und dann gibt es andere, von denen man glaubt, man könne sie getrost vergessen, bis man feststellt, dass man sie den ganzen Weg über irgendwie weiter mit sich herumgetragen hat wie ein überflüssiges Gadget, das sich als schwere Last im Rucksack bemerkbar macht. An diesem Tag begegnet mir so jemand. Vermutlich habe ich allerdings auch nicht gerade meinen charmantesten Tag. Oder anders ausgedrückt: Manchen Menschen begegnet man möglicherweise, damit sie die nur scheinbar so gut gezähmten eigenen Dämonen freisetzen und einem damit vor Augen führen, dass man selbst weit davon entfernt ist, eine Heilige zu werden.

Aber der Reihe nach.

Heute stehen nur dreizehn Kilometer an, was nach der langen Etappe von gestern einer Erholungspause gleichkommt. Von zu Hause aus hatte ich für diesen vierten Tag eingeplant, bis Monasterio zu gehen. Das wären dann nach der langen Strecke gestern noch einmal vierunddreißig Kilometer. Mir ist nicht danach. Und es macht auch keinen Sinn, weil ich genügend Zeit haben werde, nach Santiago zu kommen.

Der Weg aus dem Ort hinaus führt, wie so häufig auf der Via de la Plata, an der Stierkampfarena vorbei. Es ist beinahe frisch an diesem Morgen, doch die Sonne ist auch noch nicht ganz aufgegangen. Ich genieße die Morgenkühle auf dem kakteengesäumten Weg. Heute ist hier allerhand los. Hundert Meter vor mir habe ich den Kalifornier John um die Ecke biegen sehen, nach wenigen Minuten holt mich der Slowene Gorazd ein und berichtet mir freudestrahlend, dass der Spanier gestern Abend sein Handy wieder in Gang gebracht hat. Jetzt kann er endlich wieder Fotos schießen. Und wenig später kommen zwei Schweizer von hinten herangestürmt. Einer der beiden grüßt freundlich. Wir gehen alle zusammen weiter.

Die Aussicht auf eine kurze Strecke macht uns alle ein wenig leichtsinnig. Wir reden viel und achten nicht auf den Weg, so dass wir uns nach einer Stunde Gehens plötzlich feststellen, dass wir in die falsche Richtung laufen. Und nicht nur das. Wir sind völlig abseits des Weges. Also machen wir kehrt und folgen der Straße in die andere Richtung. Nach kurzer Zeit stellen wir fest, dass auch das nicht richtig ist. Aber immerhin führt die Straße nach El Real de la Jara. Es stellt sich also die Frage: Weitergehen oder Umkehren und den richtige Weg finden.

Ich bin unsicher, ob ich wirklich auf der Straße weitergehen soll. Immerhin: Hier auf der Straße trifft man im Unterschied zu draußen auf der Schotterpiste Menschen. Ein älterer Mann – weiß der Himmel warum er hier zu Fuß unterwegs ist – erklärt mir lachend, dass die Landstraße doch viel angenehmer wäre zum Gehen. Das habe ich schon oft erlebt. Niemand in Spanien scheint staubige Pisten der Landstraße vorzuziehen. Hier gibt es einfach zuviel Natur, Hitze und Staub als dass man sich danach sehnt abseits befestigter Straßen zu gehen.

Unschlüssig, ob ich wirklich vierzehn Kilometer auf Asphalt gehen soll, falle ich nach und nach hinter Gorazd zurück, der entschlossen immer der Straße entlang geht und bereits mehrere hundert Meter Vorsprung hat. Ich hänge bei den zwei Schweizern fest. Einer der beiden scheint zumindest heute ein mürrischer Zeitgenosse zu sein, der innerhalb kürzester Zeit schlechte Laune verbreitet. Nach einiger Zeit reicht es mir. Ich habe keine Lust, mit den beiden weiter an der Straße entlang zu gehen. Fürs Umkehren ist es eigentlich zu spät. Ich mach es trotzdem.

Meine Unachtsamkeit und der späte Entschluss zur Umkehr kosten mich am Ende zwei Stunden. Ich muss ein ganzes Stück an der Straße zurückgehen, dann einen steilen Anstieg hinauf. Als ich endlich den ersten gelben Pfeil sehe, bin ich froh, dass ich zurückgegangen bin. Der Weg führt durch eine Landschaft mit Kork- und Steineichen, scheinbar fernab der Zivilisation. Die Zeit ist nun allerdings schon recht weit fortgeschritten, die Sonne brennt wieder gnadenlos und ich muss erst einmal einen steilen Abstieg überwinden, der mir und meinem noch nicht ganz wieder hergestellten Fußgelenk viel Konzentration abverlangt.

Über mehrere Stunden begegne ich niemanden außer einem Schäfer, dessen Riesenhund Spielbedarf hat und mich vor lauter Begeisterung fast umwirft.

Am Ende verlangt mir die breite Schotterstraße alles ab. Die Sonne ist unbarmherzig. Und mir ist nicht bewusst, dass es noch sechs Kilometer bis zum heutigen Etappenziel sind. Hoffnungsvoll wähne ich El Real de la Jara hinter jeder Kurve. Aber da ist nichts als ein weiterer Abschnitt der Piste.

Erschöpft und müde erreiche ich weit nach Mittag endlich in El Real de la Jara. Auf dem Weg zu meiner Unterkunft, die offensichtlich am anderen Ende des Ortes gelegen ist, passiere ich eine Dorfbar, vor der zwei feixende Schweizer und John aus Kalifornien beim Bier sitzen und laut johlend über mich herfallen. Anscheinend waren die Schweizer und Gorazd nur wenige Minuten, nachdem ich umgekehrt war, auf die Querverbindung von der Straße zurück auf den Weg gestoßen. Der Mürrische schaut mich herausfordernd an. Ich glaube, er hätte gerne, dass ich mich vor Ärger in den Hintern beiße. Ich messe dem erst einmal wenig Bedeutung bei, hatte ich doch einen schönen Weg. Warum also sollte ich sauer sein? Ich bin halt müde und durstig und will eigentlich jetzt nur noch raus aus den Schuhen. Das laute und launige Durcheinandersprechen der drei geht mir nach Stunden der Stille auf die Nerven.

Der Straße folgend erreiche ich einige Minuten später endlich meine Herberge. Ich übernachte im Alojamiento Molina, einer Pension in einem Privathaus mit Innenhof. Die Pension war mir von unserer Herbergswirtin in Almadén empfohlen worden. Auch hier bekomme ich gleich eine Unterkunftsempfehlung für meine Einkehr morgen nebst dem Angebot, dass man für mich reservieren könne. Die scheinen ein Netzwerk zu haben. Ich lehne dankend ab, auch weil ich mich heute hier ein wenig unwohl und deplatziert fühle. Das ganze Haus wirkt leblos. Im Wohnraum, an dem ich vorbeigehen muss, um ins Bad zu kommen, sitzt ein Mann mit Kopfhörer und starrt den ganzen Nachmittag gebannt auf den laufenden Fernseher. Dann und wann verlässt er seinen Sessel, um im Innenhof eine Zigarette zu rauchen. Ich beeile mich beim Duschen und beschließe, erst einmal Essen zu gehen.

In der Nähe des zentralen Platzes bekomme ich im Restaurant „El Montero“ die beste Gazpacho, die ich jemals gegessen habe. Ein wenig salzig, aber gut abgeschmeckt und ein hervorragender Ausgleich für meinen Mineralhaushalt. Danach geht’s mir wieder besser.

Ich beschließe, mir erst einmal eine Flasche Wasser aus der Unterkunft zu besorgen und dann zur Burg hinauf zu gehen. Der schlechtgelaunte Mensch aus der Schweiz steht vor der Tür meiner Herberge und putzt seine Schuhe. Die Schweizer übernachten also auch hier. Ungefragt gibt er mir mit, was er für mich als die Lehre des Tages auserkoren hat: „Wer nicht hören will, muss fühlen.“ – Gegen übergriffige Menschen bin ich allergisch. Also kontere ich damit, dass ich vor allem eines gelernt hätte: „Auf den Weg achten und nicht so viel Blabla.“ Das scheint er persönlich zu nehmen, und wirkt augenblicklich eingeschnappt. Ich kümmere mich nicht weiter um ihn und mache mich auf den Weg zur Burg, während er mir noch hinterherruft, ich sei wohl heute noch nicht genug gegangen.

Von oben hat man einen sehr schönen Rundblick über das Land und kann in der Ferne das Castillo de las Torres an der Grenze zur Extremadura erkennen. Morgen werde ich also Andalusien verlassen. Es ist still, der Blick kann schweifen und die Erkenntnis, dass ich trotz aller Mühen doch vorwärts komme, lässt mein aufgewühltes Gemüt zur Ruhe kommen.

Zufrieden steige ich wieder in den Ort hinunter und treffe auf dem zentralen Platz Gorazd, der für heute in der Albergue Municipal untergekommen ist. Vermutlich die bessere Wahl. Wenigstens muss er nicht ständig am Wohnzimmer von Privatleuten vorbei.

Auf der Suche nach einer Bar treffen wir die beiden Schweizer. Nun ja, man kann sich in diesen kleinen Ortschaften kaum aus dem Weg gehen. Der Freundliche der beiden lädt uns an ihren Tisch ein. Der Schlechtgelaunte diskreditiert sich mit seinem aggressiven Verhalten der Bedienung gegenüber. Die Stimmung am Tisch ist augenblicklich angespannt. Dann lässt er sich über verschiedene Nationalitäten aus, bezeichnet alle Amerikaner und Russen als jeweils ein Volk von Idioten, erklärt mir, dass wir Deutschen ja immer Recht haben müssten und fordert mich mehrfach auf, Deutsch mit ihm zu sprechen, was ich unter dem Hinweis ablehne, dass ja nicht jeder am Tisch unsere Sprache verstehe. Als er sich dann noch darüber auslässt, dass die Bedienung der Bar kaum Englisch verstehe und man hier keinen guten Service geboten bekomme, reicht es mir. Ich bemerke bissig, dass es ja eine eher deutsche Marotte sei, sich über alles und jeden zu beschweren. Womit die Konversation dann unter einem Austausch von allgemeingültigen Höflichkeitsfloskeln sang- und klanglos erstirbt.

Wie gesagt: Nicht jeder auf dem Camino holt das Beste aus dir hervor. Und offensichtlich schlummern auch bei mir im Dunkeln kleinliche Dämonen, die, einmal wachgerüttelt, gerne ihre widerhakigen Pfeilspitzen in das Fleisch meiner Mitmenschen bohren, die ich dann auch nicht so schnell wieder vom Haken puhlen kann. Wieder eine Erkenntnis und vielleicht die wichtigste des Tages.

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