Mein Bett steht nur durch ein Fenster getrennt direkt neben dem Gehsteig draußen auf der Straße und irgendjemand geht hustend und rauchend draußen vorbei. Die Uhr zeigt auf fünf. Obwohl noch müde, beeile ich mich wegen der angekündigten Hitze, aus dem Bett zu kommen und packe meine Sachen. Für einen Moment durchzuckt mich ein Schrecken. Ich kann mein Portmonnaie nicht finden. Fieberhaft beginne ich meinen Rucksack zu durchsuchen. Nichts. Ich versuche mich zu erinnern. Gestern Abend hatte ich es noch. Ein Blick hinter die Kommode lässt mich aufatmen. Es war einfach am Abend zwischen Wand und Kommode runtergefallen.
Wenig später stehe ich vor der schweren Holztür meiner Pension und sauge gierig die kühle Luft ein. Lang wird es nicht so frisch bleiben. Für heute sind 35 Grad angekündigt. Schatten wird es nicht geben, aber ich habe auch keinen besonders langen Weg vor mir. Heute stehen nur 20 Kilometer an. Mehr als sechs Stunden, die Pausen mit eingerechnet, werde ich dafür kaum brauchen.
Es ist noch dunkel. Der Weg die Straße hinunter geht in eine Fahrpiste über. Nach etwa zwanzig Minuten erreiche ich den kleinen Bach Arroyo de la Vibora, der zugleich die Grenze zwischen Andalusien und Extremadura markiert. Es ist kaum Wasser in Flussbett. Geradeaus erhebt sich in der Morgendämmerung still und märchenhaft das mittelalterliche Castillo de las Torres. Die Türme sind von Störchen besetzt. Früher diente das Castillo vermutlich zur Sicherung des Weges und als Herberge.
Kaum geht die Sonne auf, wirkt die allmählich sich steigernde Hitze auch schon beinahe wieder bedrohlich. Meine Beine fühlen sich gut an, und nach vier Tagen habe ich mich auch schon wieder mit dem Gewicht des Rucksacks angefreundet. Am meisten macht mir auf dem Weg zu schaffen, dass es unterwegs so selten eine Einkehrmöglichkeit gibt. Aber heute habe ich Glück. Etwa auf der Hälfte des Weges soll es eine Bar geben. Ich freue mich darüber wie ein kleines Kind.
Nach zwei Stunden mache ich Rast, um endlich etwas zu frühstücken. Ein Stück Baguette, etwas Obst und auch Schinken. Auf diesem Weg bin ich nicht besonders wählerisch. Alles, was sich bei den Temperaturen halbwegs hält und den Magen füllt, ist mir gut genug. Während ich da so sitze, holt mich der Slowene Gorazd ein. Gemeinsam gehen wir weiter. Auch Gorazd hat allmählich Kaffeedurst und freut sich auf die ungewohnte Einkehrmöglichkeit an der Ermita de San Isidro, einem Wallfahrtsort zu Ehren des Schutzheiligen der Landwirte.
Die Ermita erinnert eher an eine Art Raumschiff aus einer 60er-Jahre-Phantasie als an eine Kapelle. Und die nahe gelegene Bar ist eine Autobahnraststätte. Noch dazu eine von mehreren Schulklassen überfüllte. Aber der Kaffee schmeckt hervorragend.
Heute ist mir nach Reden, und Gorazd geht es offensichtlich ebenso. Wie zwei Vertraute erzählen wir uns gegenseitig aus unserem Leben. Die schnelle Vertrautheit, die auf Pilgerwegen vielleicht dadurch entsteht, dass man sich auf ein gemeinsames Ziel ausrichtet, ist für mich jedesmal wieder ein wunderbares Geschenk. Weil wir so vertieft sind ins Gespräch, gehen wir relativ langsam. Ich bin froh darüber, denn alleine bin ich häufig viel zu schnell unterwegs.
In Monesterio passieren wir einen Obst- und Gemüseladen. Ich habe seit mehreren Tagen einen Jieper auf Wassermelone. Spontan kaufen wir ein großes Stück, das wir uns später teilen wollen, und mir läuft jetzt schon bei der Aussicht auf die erfrischende Frucht das Wasser im Mund zusammen.
In Sachen Herberge muss heute ein Plan B her. Die Albergue Parroquial, die wir beide eigentlich ansteuern wollten, hat ausgerechnet heute geschlossen. Wir müssen also 750 Meter abseits des Weges in die städtische Herberge gehen. Ich versuche erstmal, eine andere Herberge ausfindig zu machen, die näher gelegen ist. Aber schließlich siegt der Wunsch, unter Pilgern zu sein, über die Bequemlichkeit. Wie sich herausstellt, ist die städtische Herberge ein wahrer Glücksfall. Hospitalera Carmen ist eine ganz bezaubernde und freundliche Person, die sehr langsam mit mir Spanisch spricht. Die Herberge glänzt vor Sauberkeit, die Küche ganz besonders gut ausgestattet mit einer Vielzahl an Töpfen und Geschirr. Es gibt einen Getränkeautomaten, was gut ist, weil wir uns ja ein gutes Stück abseits des Ortszentrums befinden. Ich bekomme ein Zimmer für mich ganz allein. Und die ruhige Atmosphäre wird noch verstärkt durch gedämpfte Jazzmusik, die im Flur aus den Lautsprechern kommt.
Carmen nimmt mich bei der Hand und geht mit mir vor die Tür, um mir zu erklären, wie wir morgen auf den Weg zurück kommen. Es ist gar nicht weit. Und unterwegs gibt es einen großen Supermarkt. Fürs Essen empfiehlt sie uns die nahe gelegene Casa Juán, die nicht nur mit gutem Essen besticht, sondern auch, weil der Wirt Juán ein echtes Original ist.
Später am Abend teilen wir die Melone auf und versorgen noch einige andere Pilger damit. Zu uns gesellt sich später noch Gabor, ein junger Mann aus Ungarn. Allmählich formiert sich so etwas wie eine kleine Pilgerfamilie. Die Melone füllt nicht nur meine Wasserspeicher auf, sondern treibt mich auch in der Nacht mehrfach aus dem Bett. Nur gut, dass ich nicht im Schlafsaal liege. Sonst hätten meine Pilgerfreunde keinen Spaß.