Jeder Camino in Spanien, das habe ich inzwischen gelernt, steht und fällt mit den Wegbegleitern. Insofern bin ich auch jedes Mal gespannt, welche neuen Verbindungen sich über die Dauer so ergeben. Dabei ist es selten, dass ich mit denselben Menschen von Anfang bis Ende zusammen bin. Die Zusammensetzung der Verbindungen auf dem Weg ist einem stetigen Wandel unterworfen. Wer in den ersten Tagen auftaucht, ist unter Umständen bald für immer aus dem eigenen Umkreis verschwunden. Manchmal taucht jemand, den man tage- oder wochenlang weit voraus wähnte, urplötzlich wieder auf. Und manche Mitpilger bleiben einem den ganzen Weg über erhalten, mag die Verbindung nun intensiv oder eher distanziert sein.
In den ersten Tagen eines Weges habe ich meist mit mir selbst, dem Gewicht des Rucksacks und der ungewohnten Anstrengung zu tun. Die Offenheit des Herzens ist noch nicht ausgeprägt. Zwar genieße ich die neue Gesellschaft, aber ich warte erst einmal ab, wie sich die Dinge entwickeln. Es könnte sein, dass die Menschen, mit denen ich heute noch Tisch und Schlafsaal teile, morgen über alle Berge sind oder für immer hinter mir bleiben. Das erlebe ich so manches Mal als schmerzhaften Verlust, auch wenn man ja nur ein paar Tage zusammen war.
Gestern, in der Albergue Luz del Camino waren wir sieben Personen. Das polnische Ehepaar, Arth und Anna, haben hier übernachtet, Michael aus dem Ahrtal in Deutschland, Gorazd aus Slowenien, ein spanisches Ehepaar, Ignacio und Anna, und ich. Eine schöne internationale Mischung. Als Frau, die alleine unterwegs ist, hatte ich das Privileg des eigenen Schlafsaals ganz für mich alleine. Wie immer fremdele ich noch mit dem Umstand, mit mehreren Menschen auf engem Raum zu schlafen.
Nachdem ich gestern tagsüber viel in der Stille war, ist heute der Tag des Redens. Es ist mir ganz recht, denn so kann ich mich von meiner Nervosität ablenken. Meine Gedanken drehen sich weiter im Kreis über Fragen, die ich mit Denken nicht beantworten kann. Kurz: Ich mache mir Sorgen. Darüber, ob mein linker Fuß nach dem Unfall durchhält, ob ich die weiten Strecken in der Hitze schaffen werde, ob ich mir nicht zuviel zugemutet habe. Mein Geist ist hyperaktiv.
Kaum aus dem Ort heraus treffe ich noch im Halbdunkel einen weiteren Pilger, John aus Kalifornien, einen Lehrer, der seit einem Jahr im Ruhestand ist. Schwatzend gehen wir auf Kakteen-gesäumten wilden Pfaden, durch endlose Olivenhaine, die offensichtlich verlassen sind, und durch Landschaften mit knorrigen Eichen. Die Sonne kommt schneller und beißender hoch als erwartet. Schon nach drei Stunden, um ca. zehn Uhr morgen, ist es unerträglich heiß. Immerhin: Die knorrigen Eichen spenden ein klein wenig Schatten, hie und da gibt es Felsen, auf denen man sich niederlassen kann. Ich gönne mir eine Pause und lasse die kleine Pilgergesellschaft einen nach dem anderen an mir vorüberziehen.
Die beiden kleinen Spanier rühren mich an. Der Mann hat sich den Rucksack seiner Frau auf den Bauch gebunden. Sie hatte vor einiger Zeit eine Herz-Operation und leidet unter der Hitze. Aber sie beklagt sich nicht. Und er trägt den Rucksack mit der allergrößten Selbstverständlichkeit.
Die letzten fünf Kilometer zum Etappenziel führen auf einem schmalen Pfad neben der Straße entlang. Als ich gegen zwölf Uhr mittags die Herberge in Castilblanco de los Arroyos erreiche, bin ich froh, aus der Hitze rauszukommen.
Der freiwillige Hospitalero beschreibt uns die morgige Etappe und erklärt uns dann mittels einer Sprach-App die Hausregeln. Achtzehn Kilometer auf der Straße stehen an, bevor wir dann endlich den Naturpark Monte Público Navas-Berrocal erreichen werden. Insgesamt haben wir morgen dreißig Kilometer vor uns. Dazwischen gibt es keine Einkehrmöglichkeit, keinen Ort, keinen Laden. Dennoch wird er die Eingangstür nicht vor sechs Uhr öffnen. Arth vermutet, dass diese Aussage nicht ganz ernst zu nehmen ist. Schließlich sollte doch jedes öffentliche Gebäude eine Fluchttür anbieten, durch die man das Haus im Notfall verlassen kann. Ich hoffe, dass er recht behält.
Es gibt nicht viel in Castilblanco, aber eines ist gewiss, meint der Hospitalero: Hier gibt es eine große Restaurantdichte. Das klingt gut. Ich entscheide mich für Mittagessen ab halb drei in der Bar gegenüber. Das spanische Ehepaar kommt direkt mit. Die Unterhaltung ist ein wenig einseitig. Ich verstehe leider nur einen winzigen Bruchteil von dem, was sie mir erzählen. Aber bei einer Sache werde ich hellhörig. Vermutlich weil Ignacio nun ganz besonders langsam und deutlich mit mir spricht. Es gebe, so meint er, die Möglichkeit die siebzehn Kilometer auf der Straße mit einem Taxi zurückzulegen. Forschend schaut er mich an. Ich muss zugeben: Das klingt verlockend. Aber schließlich lehne ich ab. Ich kann doch nicht schon jetzt ins Taxi steigen, bloß weil mir die Wegführung nicht passt! Ich hab noch neunhundertzwanzig Kilometer vor mir.
Und was wäre das auch für eine Pilgerreise, bei der man Unannehmlichkeiten mit der Kreditkarte aus dem Weg geht?