So vieles ist schon passiert, seit ich gestern früh das Haus verlassen habe, um nach Sevilla zu fliegen. So macht man sich heutzutage meistens auf eine Pilgerreise. Man geht nicht einfach aus dem Haus und läuft los. Man fliegt irgendwohin, um von dort eine Weg zu gehen, der einen ankommen lässt.
Also noch einmal. Es ist viel passiert. Viel und doch auch wieder nichts. Es war einfach Leben, so wie sich das Leben eben manchmal zeigt. Die Reise von Frankfurt nach Sevilla war nervtötend, voller Widersprüche und Unpässlichkeiten. Und weil ich nun doch endlich alles hinter mir lassen wollte, war ich davo wie abgeschnitten, gerade so, als wäre die Anreise gar nicht ein Teil meines Camino.
Ich erreichte Sevilla mit zwei Stunden Verspätung. Die Stadt war mir zu laut. Erst als ich um den Alcázar Real herumgegangen war und ein wenig durch das Viertel Santa Cruz geschnuppert hatte, um dann in die zauberhaften Jardines de Murillo abzubieten, wurde es auch in mir ein wenig stiller. Ich betrat den Park an der Ecke, an der sich der Balkon von Rosina befindet, der angeblich Rossini zur Oper „Der Barbier vo Sevilla“ inspiriert hat. Hier sangen die Vögel um die Wette, das laute Feiern und der motorenlärm verschwanden hinter einer grünen Wand.
Weiter ging ich zur Plaza de España mit seinen im Halbkreis angeordneten Regierungsgebäuden, dem zentralen Springbrunnen und runden Kanal mit mehreren Brücken. Ich habe selten etwas so Prachtvolles gesehen. Die 52 spanischen Provinzen und ihre Geschichte sind hier in Mosaik-Kachelwänden verewigt.
Später lief ich hinüber zum anderen Ufer des Guadalquivir, zum Stadtteil Triana mit seinen vielen Kneipen. Nicht mein Fall und auch nichts für mich dabei. Am Ende wurde es mir wieder zu voll und zu hektisch und ich wollte nur noch zurück ins Hotel.
Am Morgen dann endlich richtig packen. Bei all dem, was da noch in den Rucksack rein musste, wurde mir angst und bange. Ich befürchtete schon, den Rucksack gar nicht mehr heben zu können. Unwillkürlich musste ich ein wenig grinsen, weil ich mich an die Filmszene aus „Wild“ erinnerte, in der Reese Witherspoon alias Cheryl Strayed mit ihrem überdimensionierten Backpack wie ein Käfer auf dem Rücken zappelt. – Dennoch: Es ging alles gut. Selbst mit zwei Litern Wasser war der Rucksack für mich immer noch zu stemmen.
Bei der Kathedrale hatte ich Schwierigkeiten, den Einstieg in den Camino zu finden und war auch ein bisschen nervös, weil ich tags zuvor nicht eine einzige Muschel gesehen hatte. Mein Blick war wohl noch nicht so richtig geschärft gewesen. Als ich dann endlich an der Puerta de Asunción an der Westseite der Kathedrale die Jakobusfigur entdeckte, da kamen mir beinahe die Tränen. Nach all den entbehrungsreichen und anstrengenden Monaten und der vielen Aufregung wegen des anstehenden Jobwechsels nach elf Jahren, nach meinem Laufunfall und einer schmerzhaften Bänderdehnung dreieinhalb Monate zuvor, hatte ich lange nicht daran geglaubt, in diesem Jahr noch auf den Camino zu kommen.
Doch jetzt wird es Wirklichkeit. Ich bin auf dem Weg.
Eine Gruppe Jugendlicher, die wohl die Nacht durchgemacht haben, schart sich hungrig um eine Bar. Sehr viele Pilger scheinen sie nicht zu sehen, denn sie fragen mich interessiert, ob ich wirklich ganz bis Santiago gehen möchte. Wie lange das dauert, will einer wissen. Ich sage: „40 Tage“. Er darauf „14?“. – „Nein, vierzig“. Er schaut mich ungläubig und sprachlos an. Ich lache vergnügt und gehe über die Straße.
Beim Hinauslaufen aus der Stadt treffe ich die ersten Pilger, ein polnisches Paar, das sehr schnell unterwegs ist. Er hat einen riesigen Rucksack auf, und auf einmal fühle ich mich mit meinem Schneckentempo ein wenig alt. Aber egal. Es stehen bis Guillena nur 17 Kilometer an, genau das Richtige, um sich einzulaufen.
Auf der einsamen Strecke vor und hinter Santiponce kommt mir der Gedanke, dass ich diesen Camino der Dankbarkeit und Demut widmen möchte. Und demütig werde ich wohl, denn ich bin wegen der Bänderdehnung schon mit einer Sehnenreizung angereist und heute meldet sich meine Achillessehne. Schlagartig bin ich beunruhigt und versuche, möglichst kleine Schritte zu machen. Hoffentlich hält mein linker Fuß. Ohnehin ist mir seit langem bewusst, dass dieser Weg mit den langen und einsamen Etappen ohne Schatten für mich zum allerersten Mal wohl auch eine physische Herausforderung wird.
Hinter Santiponce begegne ich in der früh einsetzende Morgenhitze der ersten langen Geraden auf der Via de la Plata. Da finde ich das noch amüsant. Noch. Die langen Geraden werden mich aber auf den ersten siebenhundert Kilometern der 1000 Kilometer langen Strecke nicht mehr loslassen. Man braucht wohl keine besondere Phantasie, um sich vorzustellen, dass dies auf Dauer eine mentale Herausforderung werden kann.
Nach dieser Etappe komme ich in Guillena in der Albergue Luz del Camino unter. Ich hatte völlig unnötigerweise von Santiponce aus angerufen. Meine Spanischkenntnisse sind sehr basic, so dass ich die Hospitalera erst einmal falsch verstehe und schon befürchte, es gäbe keinen Platz. „Aber nein“, versichert sie mir. Ich kann kommen. Sie ist sehr freundlich und fast überschwänglich. „Abrazos“ (Umarmung) wirft sie mir zu und sagt noch, sie heiße Pilar. Und ich denke: „Ja, so ein Pfeiler, der gibt mir Sicherheit.“