Es ist schon eine seltsame Welt, in der wir gerade leben. Neulich hatte ich beim Flanieren durch ein Einkaufszentrum kurzzeitig den Wunsch, jemand möge mich aus diesem Traum herausholen. Die unsichtbaren Gesichter hinter den Masken erschienen mir vollkommen unwirklich, ich selbst empfand mich aus der Zeit herausgefallen.
Ich musste tief durchatmen, um wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen und das, was eben gerade ist, anzunehmen. Wenn ich heute so auf mein Leben blicke, dann bin ich dennoch erstaunt, wie verbindend Social Distancing sein kann. Obwohl wir alle sehr damit beschäftigt sind, den Abstand zu wahren, erlebe ich Begegnungen, die ohne Corona möglicherweise nicht stattgefunden hätten.
Ganz spontan verabredet man sich zum Wandern mit teilweise wildfremden Menschen und kommt sich innerlich näher als es die Situation erwarten ließe. Mein Blog und das Pilgern haben mir in dieser Zeit gleich drei Menschen näher gebracht: Jana, begeisterte Jakobspilgerin, bin ich schon öfter begegnet. Wir haben uns aber noch nie zu zweit zum Wandern verabredet. Bettina, die eigentlich während ihrer dreimonatigen Auszeit auf dem Camino del Norte unterwegs sein wollte und der ich dafür vor kurzem von meinen Erfahrungen berichtet habe, ist auch so ein Gewinn. Und dann ist da noch Bernd, der mir noch vor drei Wochen ein völlig Unbekannter war und dem ich nur begegnet bin, weil er eben gerade nicht auf dem Portugués unterwegs sein konnte. Wir waren schon einige Male zusammen wandern, am Wochenende gehen wir zwei Etappen auf dem Lahn-Camino; und ich freue mich, dass er mich ab Ende nächster Woche für zehn Tage auf der Via Regia begleitet. Das erste Mal seit langer Zeit, dass ich mich nicht allein auf den Weg mache.
Es ist ein bisschen wie auf dem Camino, auf dem wir die Faszination des Wandels erleben. Nicht nur das Aussteigen aus der gewohnten Umgebung macht dabei unsere Veränderung aus, sondern das Ablegen einer einengenden Rolle, die wir für unsere gewohnte Umgebung angenommen haben. Auf einmal werden wir wieder zu einer weißen Seite unseres Lebensbuches und alle Möglichkeiten stehen uns offen.
Gestern habe ich meine Nachbarin für einen Arztbesuch nach Wiesbaden gefahren und musste mir ein paar Stunden lang die Zeit beim Stadtbummel vertreiben. Während ich so durch die Gassen schlenderte, wurde ich auf der Straße von einer Radioreporterin gefragt, ob es etwas gebe, das ich in der Zeit der Corona-Krise neu erfahren hätte und mir bewahren möchte. Ich musste gar nicht lange überlegen. Auf Anhieb fielen mir zwei Dinge ein: Entschleunigung und ein fürsorgliches Miteinander.
Gerade jetzt, wo darüber diskutiert wird, dass Europa in der Bekämpfung des Coronavirus alles andere als ein einheitliches Bild abgibt, fiel mir das Beitragsbild wieder in die Hände. „Europa ist auf der Pilgerschaft geboren“. Jeder, der auf dem Weg war, weiß ganz genau, was damit gemeint ist. Ich hoffe sehr, dass wir uns alle bald wieder auf den Weg machen. Immer Richtung Westen, bis ans Ende der Welt und darüber hinaus.
Ultreia!
…ich schließe mich dem an…
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