Das Wort „Pilgern“, das zurückgeht auf den lateinischen Ausdruck „per agere“, bedeutet wohl soviel wie „fern des Ackers“. Man zieht also in die Fremde hinaus, verlässt die eigene Sicherheit oder auch die Komfortzone, um neue Erfahrungen zu machen. Das bedeutet auch, dass man alte Erfahrungen und Gewissheiten in Frage stellt.
Heute erstaunt es mich wieder einmal aufs Neue, wie groß der Einfluss des Wetters auf meine Befindlichkeit sein kann, wenn ich mich von meinem sicheren Umfeld entferne.
Der Tag begrüßt uns heute mit stürmischem Wind und ein wenig Sprühregen. Den Poncho überzuziehen lohnt nicht. Die beinahe schwarzen Wolken türmen sich bedrohlich auf, hin und wieder reißt der Wind ein Loch hinein und lässt auf Sonne hoffen. Der Sturm zerrt an der Kleidung und den Haaren und kehrt damit auch ein leichtes Unbehagen aus meinem tiefsten Inneren nach außen. Ein Unbehagen, das hinter der Frage steht, wie sicher ich eigentlich auf mein eigenes Dasein in dieser Welt bauen kann. Wie selbstverständlich gehe ich „auf meinem Acker“ davon aus, dass die Welt sich jeden Tag aufs neue weiterdreht. Hier, in der Fremde, kommt mir diese Gewissheit abhanden.
Wir haben auf der heutigen Etappe zweiundzwanzig Kilometer von uns, die erste Hälfte davon, bis Romrod, ausschließlich durch die Natur.
In Romrod möchten wir gerne im Schlosspark picknicken. Uns ist aber auch nach einem warmem Getränk, deshalb zieht es uns magisch in die Schlossbar. Wir steuern noch etwas unsicher auf die Tür zu, als uns die Marketing-Frau des Hotels auf das herzlichste einlädt, uns hineinzusetzen. Wir dürfen sogar unsere mitgebrachten Stullen dort verzehren, denn die Küche öffnet erst am Abend. Auch hier fühlen wir uns sehr freundlich aufgenommen, erfahren viel über die eigene Schlossbrauerei und Craft Bier, über den Wunsch des Hotels, jeden Aufenthalt zu einem Erlebnis zu machen. Und das wird es auch für uns. Wir erleben eine Gastfreundschaft, die mittlerweile wirklich selten geworden ist. Und um noch eins oben drauf zu setzen: Barbara wird von der Marketing-Frau im Auto nach Alsfeld mitgenommen; ihre Blasen sind schlimmer geworden. Wir werden uns dort am Marktplatz treffen.
Ich gehe allein weiter, vorbei an dem einsamen Kirchlein in Oberrod, dem das Dorf abhanden gekommen ist.
Weiter nach Liederbach, über den Gänsberg nach Altenburg. Von dort erhasche ich schon einen Blick auf das nahe gelegene Alsfeld, muss aber noch unter der A5 hindurch. Der Weg schlängelt sich auf Radwegen durch den Wald und zieht sich für mich, die ich mittlerweile müde geworden bin, doch sehr in die Länge. Es dauert, bis ich endlich einen Blick auf die Altstadt habe. Barbara hat ein gemütliches Café für uns ausgesucht, das Café am Marktplatz. Ich habe für heute auch genug vom Laufen. Wir lassen unser dreitägiges Vagabundendasein hier ausklingen, bevor wir den Zug nach Hause nehmen.
Die Bilanz des Tages: Auf Regen folgt Sonnenschein und Zuhause ist überall, wenn man offen ist.