Um sechs Uhr morgens ist es noch sehr finster. Der Weg verläuft durch Wälder und Hohlwege, es riecht nach Eukalyptus. Ich habe nicht mehr so starke Schmerzen im Schienbein. Es sind heute früh auch noch nicht viele Menschen unterwegs, die vielleicht durch ihr Laut-Sein schlechte Laune erzeugen könnten. Und dennoch: Ich bin nicht gut drauf.
Ich frage mich, warum ich mich seit Tagen so unglücklich fühle. Die Schmerzen im Schienbein? Die vielen Menschen auf den letzten hundert Kilometern? – Alles Quatsch! Geschichten, die mein Verstand erfindet, weil es ja so plausibel ist. Es steckt etwas anderes dahinter. Und es kostet mich einige Kilometer des Nachdenkens, bis es mir auf einmal klar wird: Ich bin in Gedanken ständig beim Beginn meiner Reise und beim Ende. Wie bin ich vor fast einem Monat gestartet? Was werde ich tun, wenn ich in Santiago bin? Habe ich alles richtig gemacht? Hatte die ganze Unternehmung einen Sinn?
Meine Gedanken kreisen permanent um Vergangenheit und Zukunft. Mein Verstand versucht den Erfolg meiner Pilgerreise zu evaluieren. Seit einem Monat hat nichts anderes gezählt als immer nur der nächste Schritt. Und nun wird mein Denken geflutet von all dem unbrauchbaren Mist, der mich schon vor der Reise immer beschäftigt hat. Wie will man den Erfolg einer Herzensangelegenheit bemessen? Letztlich zählt doch immer nur das Dasein, das Erleben des Augenblicks. Hier. Jetzt.
Aber ich bin schon wieder viele Schritte voraus. Ich bin mit meinen Gedanken nicht da, wo meine Füße sind. Ja, noch nicht einmal in Santiago oder Finisterre. In Gedanken sitze ich schon wieder an meinem Arbeitsplatz. Und ich weiß nicht, wie ich wirklich dahin zurückgehen kann, wo ich doch nichts lieber täte als diesen Weg einfach wieder zurückzulaufen. Zu Fuß. Einen Schritt vor den anderen setzend.
Doch noch bin ich hier auf dem Camino. Ich lasse Melide hinter mir. Boente. In Ribadiso stehen schon einige Pilger vor der Herberge. Es ist noch nicht einmal Mittag. Ich lächle, weil ich den Ort kenne. Hier habe ich 2006 mit meinem damaligen Freund gezeltet. Während ich meinen Weg weitergehe, höre ich hinter mir schnelle Schritte. Es ist Mei Yi, die Taiwanesin aus León. Ich freue mich sehr, sie zu sehen. Ihre Füße haben sich erholt. Sie freut sich, dass sie wieder zu Fuß unterwegs sein kann. Ich freue mich mit ihr. Auf der Straße legen wir gemeinsam ein kleines Tänzchen hin.
In Arzúa treffe ich Roger. Er hat mittlerweile auch genug von den vielen Menschen und wird nicht mehr bis Finisterre weiterlaufen. Am Montag fährt er nach Hause. Heute ist Dienstag. Also bleibt er nicht einmal mehr eine Woche in Spanien. Ich gebe ihm meine Mail-Adresse und hoffe, dass wir uns in Santiago noch einmal treffen.
Arzúa ist mir zu voll. Ich besuche noch die anscheinend legendäre Churreria O Furancho d’Santiso mit laut Outdoor-Guide den besten Churros auf dem Camino. Dann gehe ich weiter nach Pregontoño. Dahinter soll es irgendwo eine abgelegene Herberge geben. Der Weg ist schlecht beschrieben. Ich rufe den Hospitalero an. Er spricht nur Spanisch. Und ich habe Mühe, ihm zu erklären, wo ich bin. Zum Glück überholt mich da gerade eine Schweizerin, die den Weg zu kennen scheint. Nach weiteren zwei Kilometern haben wir die Herberge erreicht.
Noch 35 Kilometer bis Santiago.