Tag 30: Pregontoño – Santiago (21.06.2017)

Es ist seltsam. Obwohl das Leben auf dem Weg so klar strukturiert ist, endet mein Tag häufig anders als ich es mir vorgestellt habe. Heute zum Beispiel gehe ich los in dem festen Glauben, dass ich kurz vor Santiago noch einmal übernachten werde. Fünfunddreißig Kilometer mit einer Sehnenentzündung im Schienbein erscheinen mir zu lang. Und um ehrlich zu sein: Ich habe ein wenig Angst vor dem Ende meiner Reise.

Ich habe mir für die Nacht ein Zimmer mit zwei Pilgerinnen geteilt und sehr ruhig und lang geschlafen. Als ich vor die Tür trete, habe ich erstmals seit Tagen wieder ein gutes Gefühl beim Gehen. Die Schmerzen im Bein sind zwar nicht weg, aber das Gehen fällt mir viel leichter. Ich möchte das nicht aufs Spiel setzen und gehe langsam. Noch begegne ich wenigen Pilgern. Die meisten sind für die Nacht im drei bis vier Kilometer entfernten Arzúa geblieben, ich habe also einen kleinen Vorsprung.

Der Pilgerweg kreuzt immer wieder die N-547 nach Santiago, entfernt sich und führt durch duftende Eukalyptuswälder, führt mich dann wieder zur Nationalstraße zurück und direkt daran entlang. Zwölf Kilometer sind es bis Santa Irene, wo ich 2006 die Nacht in einer gemütlichen Privatherberge verbracht habe. Aber natürlich viel zu früh, um den Tag schon zu beenden.

Der Lärm an der Straße ist ohrenbetäubend. Ich passiere einen Stand, an dem man sich einen Stempel holen kann. Dort liegt ein Buch zum Verkauf aus: „La Soledad Compartida“ von Walter y Flan. Ich übersetze es mir als „Die geteilte Einsamkeit“. Der Titel spricht mich an, aber mein Spanisch ist nicht gut genug.

Ich bin schon einige Meter weiter, als von dem Stand eine Musik an mein Ohr dringt, die mir bekannt vorkommt. Ich gehe zurück und lege mein Ohr direkt an den CD-Spieler am Stand. Wegen der vielen vorbeifahrenden Autos kann ich es kaum hören. Aber ja, tatsächlich: Es ist Snatam Kaur, die da singt! Ein Kundalini-Yogi, hier, auf dem Camino, direkt neben der Straße. Ich drehe mich um zu dem Standbetreiber und zeige ihm, dass ich das Mantra kenne. Es ist „Aad Gureh Nameh“, ein Mantra für Führung und Schutz, dass in jeder Kundalini-Yogastunde zur Einstimmung gechantet wird. Und dann passiert etwas, das für mich auch zu den Phänomenen des Jakobswegs gehört. Durch einen kurzen Augenblick der Achtsamkeit und des Erkennens öffnen sich die Herzen; und dieser wildfremde Mensch kommt mit einem strahlenden Lachen auf mich zu, schließt mich fest in seine Arme und küsst mich mehrfach auf die Wange. Und ich fühle mich wohl, aufgehoben, in diesem kurzen Moment der Verschmelzung.

Es stellt sich heraus, dass er der Autor des Buches ist. Natürlich frage ich ihn, ob man es auf Englisch bekommen kann. Leider nein. Aber Walter – oder Flan – nimmt mir das Versprechen ab, nächstes Jahr wiederzukommen. Dann gibt es eine englische Übersetzung. Versprochen! So sicher, wie er sich da ist, glaube ich es ihm sogar.

Diese kurze Begegnung beflügelt mich so sehr, dass ich heute die Gewissheit habe: Ich gehe jetzt durch bis Santiago! Es sind noch weitere zwanzig Kilometer. Aber pah! Meine Beine haben mich 800 Kilometer getragen. Das letzte Stück ist eine Pappenstiel.

Um halb vier trete ich durch den Torbogen auf die Praza de Obradoiro, den großen Platz vor der Kathedrale und kann die Tränen nicht zurückhalten. Ich habe es tatsächlich geschafft! Es ist, als ob ich alle Gefühle, alle Begegnungen, alle Schmerzen und Freuden in diesem Moment noch einmal durchlebe. Wie gerne hätte ich diesen Moment mit jemandem geteilt. Aber der Platz ist recht leer, und die paar Pilger, die im Moment dort sind, kenne ich nicht. Was soll’s? Ich werde später jemanden treffen. Für den Moment genügt es mir, Teil der großen Camino-Gemeinschaft zu sein.

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