Taq 21: Murias de Rechivaldo – Foncebadón (12.06.2017)

Heute geht es wieder in die Berge. Endlich ein bisschen Abwechslung! Um 6 Uhr ruft mich der Weg, ich gehe wie üblich ohne Frühstück los. Mittlerweile ist es morgens um diese Zeit noch relativ dunkel. Doch zu keiner Zeit sonst als dieser duftet die Erde so betörend, singen die Vögel lauter und knirscht der Schotter unter meinen Füßen heimeliger. Der Sonnenaufgang ist heute ganz besonders, es sieht so aus, als würde sich die Seele in die Lüfte schwingen.

Zwanzig Tage bin ich nun schon unterwegs. Zwanzig Tage immer Richtung Westen. Zwanzig Tage, in denen ich meinen Schatten vor mir hertrage. Ich werde diesen Schatten nicht los, er gehört zu mir. Doch wenn ich dann am Ziel sein werde und mich zum ersten Mal wieder in Richtung Osten bewege, zurück nach Hause, dann wird der Schatten hinter mir sein. Und ich hoffe inständig, dass dann die vielen belastenden Gedanken auch hinter mir zurückbleiben.

Heute ist ein besonderer Tag. Ich gehe heute nach Foncebadón. Von dort ist es nur noch eine halbe Stunde bis zum Cruz de Ferro, dem Ort, an dem jeder Pilger einen von zu Hause mitgebrachten Stein als Symbol für seine Nöte und Lasten niederlegt. Ich führe heute Zwiegespräche. Dankbar, gefasst und auch ein wenig anklagend. Ich weiß nicht genau, mit wem ich da rede. Der Einfachheit halber nenne ich es ‚Gott‘. Warum bin ich hier? Welche Aufgabe habe ich hier zu erfüllen? Ich habe keine Antwort darauf, aber ich bitte inständig darum.

Das Gehen ist heute fast erholsam. In Santa Catalina de Somoza genehmige ich mir heute ein Frühstück in der Herberge El Caminante.

Es ist so friedlich hier draußen, kaum ein Pilger zu sehen. Die meisten werden wohl in Astorga übernachtet haben. Nur knapp fünf Kilometer weiter in El Ganso gönne ich mir noch einen Café con Leche. Die reinste Kaffeefahrt heute. Rabanal del Camino gefällt mir gut, aber ich will ja heute noch oder spätestens am nächsten Tag im Morgengrauen am Cruz de Ferro sein. Also gehe ich die restlichen 6 Kilometer weiter, nicht ohne noch eine Essenspause einzulegen. Von der Straße her pfeift es. Francesco winkt mir zu. Hey! Ich freue mich, dass er auch hier ist, hab ihn seit vielen Tagen nicht gesehen. Er ist noch mit seiner italienischen Pilgergruppe zusammen. Er hat seine Heimat gefunden.

In Foncebadón bin ich schon vor der Mittagszeit; die Herberge Monte Irago, die ich mir ausgesucht habe, hat noch zu. Im Haus ist eine Bar, die Musik aber so abschreckend laut, dass ich hier nicht bleiben möchte. Ich gehe weiter und habe heute erstmalig Schwierigkeiten, ein Bett zu finden. Die nächsten Herbergen sind voll, das Hotel hat auch keinen Platz für mich. Die kirchliche Herberge am Ortsausgang öffnet erst um halb zwei. Ich bin unentschlossen. In Manjarín will ich auf keinen Fall übernachten, bis El Acebo sind es noch 11 Kilometer. Ich gehe langsam wieder zurück. Da kommt auf einmal der Hotelwirt auf mich zu und sagt, er hätte gerade eine Absage erhalten und somit ein Zimmer frei. Ich schlag natürlich sofort zu. Ein Einzelzimmer! Das hatte ich überhaupt noch nicht auf dem Camino. Das Zimmer ist irre klein, das Bad ist außerhalb. Aber das nehme ich gerne in Kauf für ein bisschen Privatsphäre nach drei Wochen.

Ich bestelle mir ein Mittagessen. Und während ich da so sitze kommt erst Roger und später auch noch Flavio und Lorena vorbei. Wie schön mit den alten Freunden zusammenzusitzen. Alle drei finden nach einigem Suchen auch doch noch ein Bett hier am Ort. Am Nachbartisch in einer der Herbergen sitzt Morris Jensen mit einem Laptop. Ich frage ihn, ob er sein Büro mit auf den Weg gebracht hat. – Hat er nicht. Es stellt sich heraus, dass er, der den Weg schon zweimal ganz gegangen ist, diesmal auf Malreise ist. Er hält Szenen am Camino künstlerisch fest.

Am frühen Abend beschließe ich, allein zum Cruz de Ferro hochzugehen. Ich möchte dort meditieren und darum bitten, dass ich meine Last dort ganz zurücklassen kann. Es ist ein sehr schöner, stiller Moment, in dem ich all das Nutzlose und die Gebrochenheit meines Herzens dort oben am Kreuz lasse. Ich sitze noch eine Weile ganz still, als plötzlich ein Radfahrer den Berg heraufgeschnauft kommt. Ein spanischer Radpilger. Er übernachtet in Astorga, hatte aber den gleichen Gedanken wie ich und wollte am Abend seine Last hier loswerden. Er möchte von mir gefilmt werden, während er seinen Stein niederlegt, drückt mir sein Handy in die Hand und bittet mich, nicht auszulösen, bevor er es sagt. Und dann baut er sich neben dem Kreuz auf, macht mir ein Zeichen zum Start, ruft etwas auf Spanisch, was ich nicht verstehe, und schleudert den Stein weg. Das hat etwas Surreales. Ich muss unwillkürlich grinsen, auch über mich, die ich meinen Stein beinahe andächtig dort niedergelegt habe. Und ich bin berührt über die Anziehungskraft, die ein solcher symbolischer Akt auf die Menschen ausübt.

Viel weiter unten in dem Steinhaufen liegt bereits ein Stein von mir. Den habe ich 2006 dort gelassen. Inzwischen sind so viele Steine darüber gelegt worden. Und während ich dies hier schreibe, wird wohl mein Stein von 2017 schon wieder unter einer weiteren Schicht verborgen sein.

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