Die Nacht war ruhig und erholsam. Der einzige Pilger, mit dem ich mir das 8-Bett-Zimmer geteilt habe, ist schon aufgebrochen. Inzwischen habe ich gelernt, meinen Rucksack soweit zu packen, dass ich am Morgen nur noch Kleider, Toilettenartikel und Schlafsack greifen muss und still den Schlafsaal verlassen kann. Die Stirnlampe liegt auch immer griffbereit im Bett. Heute erfahre ich den Luxus, bei maximaler Beleuchtung alles ordentlich zu verstauen. Ich gehe nach unten, hole Wanderstiefel und Stöcke aus dem Regal im Hof. Wie immer gibt es weder Kaffee noch Frühstück. Es treibt mich in der Morgenkühle erst einmal auf den Weg. Nie duftet die Natur besser als in diesen frühen Morgenstunden.
Der Sturm hat sich gelegt. Der Himmel verspricht einen sonnigen Tag. Die Negativität vom Vortag hat der Wind davongetragen. Meine Füße und Beine haben mir den 40-Kilometer-Marsch vom Vortag verziehen. Ich bin dankbar für meinen Körper, der mich ohne Beschwerden weiterträgt.
Und dann geschieht wieder einmal ein kleines Wunder. Als ich an der Herberge vorbeikomme, in der ich gestern Abend gemeint hatte Roger zu hören, kommt er tatsächlich gerade zur Tür heraus. Ich freue mich riesig ihn zu sehen, wir gehen ein kleines Stück zusammen, um uns dann aber wieder zu trennen. Wir möchten beide allein sein. Ich lasse ihn vorgehen; ohnehin ist er schneller als ich.
Hinter Castrojeriz steigt der Weg wieder steil an. Nebelschwaden hängen tief im Tal, die Sonne darüber taucht die Landschaft in ein mystisches Licht. Und ich fühle mich ganz, voller Freude und Wohlsein. Ich weiß jetzt: Meine Entscheidung, allein weiterzugehen, war vollkommen richtig. Und ich nehme mir vor, mich auf dem Weg nicht mehr so fest an eine Gruppe zu binden. Jedenfalls nicht für so lange Zeit. Auf dem Alto de Mostelares drehe ich mich um und erhasche einen zauberhaften Blick über die Ebene mit dem Burgberg von Castrojeriz, der von hier oben wie ein Ameisenhügel wirkt. In die andere Richtung eine weite Ebene mit sanften Hügeln und Getreidefeldern, soweit der Blick reicht. Ich glaube das hier ist der meistfotografierte Blick über die Meseta.
Nach guten zwei Stunden erreiche ich die Kirche St. Nicolas, die eine Pilgerunterkunft mit nur zwölf Schlafplätzen beherbergt. Dort wird noch der Brauch der Fußwaschung praktiziert, es gibt ein gemeinsames Abendessen gegen Spende. Sollte ich den Camino Francés noch einmal gehen, möchte ich hier, fernab von aller Ablenkung, eine Nacht verbringen.
Ich gehe stetig weiter über Itero de la Vega, Boadilla del Camino. An diesen Ort habe ich aus dem Jahr 2006 noch eine deutliche Erinnerung. Damals gab es einen Alten dort, der am Brunnen jeden Pilger angesprochen und Visitenkarten verteilt hat. Trotz meiner geringen Spanisch-Kenntnisse hab ich damals verstanden, dass er Postkarten aus aller Welt sammelt. „Schick mir eine, wenn Du wieder in Deutschland bist!“- Heute ist hier am Dorfbrunnen niemand. Der Ort wirkt ausgestorben.

Hinter Boadillo trifft der Weg auf den Kanal von Kastilien, dereinst im 18. Jahrhundert als Transportweg geplant, heute Bewässerungssystem des trockenen Landes. Es weht ein angenehmes Lüftchen, das Gehen ist heute wirklich sehr angenehm.
In Frómista beschließe ich, noch ein paar Kilometer weiterzugehen bis nach Población de Campos. Dort soll es eine recht neue Herberge mit nur zwölf Betten in einem schönen, weitläufigen Anwesen geben. Dort angekommen traue ich meinen Augen kaum: Die Kabinen sind ordentlich, sauber, die Betten liebevoll bezogen. Die oberen Kabinen erreicht man über eine kleine Treppe. Es ist fast ein Zimmer, das mir dort zur Verfügung steht, mit Privatsphäre und eigenem Licht, das niemanden stört. Die Waschmaschinennutzung ist kostenlos. Und es gibt zur Begrüßung eine leckere Gazpacho für die müde Pilgerin.
Beim Abendessen unterhalte ich mich lange mit einer Amerikanerin, einer freiwilligen Helferin in der Herberge, die gerade heute erst angekommen ist. Sie ist überglücklich, hier zu sein. Vor einem Jahr ist sie selbst den Francés gegangen und hatte eine sehr schöne Erinnerung. In Santiago angekommen, erinnerte sie sich an das Angebot zu bleiben. Sie fuhr zurück, verbrachte eine Woche hier und nun ist sie für drei Monate zurückgekommen. Sie strahlt so sehr vor Glück, dass es eine Freude ist.
Ganz sicher zu wissen, wo ich hingehöre: Das wünsche ich mir auch für mich.