Tag 6: Monesterio – Calzadilla de los Barros (27.05.2022)

Heute nehme ich mir mal die Zeit für ein gutes und ausgiebiges Frühstück. Wann hat man schon mal den Luxus einer so gut ausgestatteten Küche wie in der Albergue Municipal von Monesterio. Als ich mich um viertel vor sieben auf den Weg mache, habe ich nicht einen der bisherigen Pilgerbekanntschaften gesehen. Entweder sind sie schon unterwegs oder sie schlafen noch. Schwer zu sagen, denn ich hatte ja als eine der wenigen Frauen allein auf der Plata das Privileg eines eigenen Schlafgemachs.

Wie es mir Herbergswirtin Carmen am Vortag empfohlen hat, gehe ich nicht in den Ort zurück, sondern einfach die Straße runter, immer geradeaus, bis ich beim Hotel Leo auf die Hauptstraße stoße. Von weitem sehe ich John aus Kalifornien die Straße überqueren. Als ich die Hauptstraße erreiche, sehe ich keinen John mehr und auch keinen gelben Pfeil. Ich greife rückwärts in meine obere Packtasche, erwische aber meinen Via de la Plata-Führer nicht, weil er weit nach hinten gerutscht ist. Etwas nörgelig und missmutig nehme ich den Rucksack runter, lass ihn in den trockenen Straßenfeinstaub plumpsen und fluche leise. Immerhin: Die Wegbeschreibung ist aufschlussreich genug, so dass ich meinen Weg fortsetzen kann. Meinen Führer stecke ich vorsorglich in die Hosentasche.

Hinterm Sportplatz geht es links auf eine Piste mit zauberhafter Dehesa-Landschaft: knorrige Stein- und Korkeichen spenden Schatten für Kühe, Schafe und Schweine, die sich frei auf dem Gelände bewegen und sich von Eicheln ernähren. Das ist das Geheimnis und Gütesiegel für den berühmten iberischen Schinken. Dass es auch anders geht, nämlich mit vergleichsweise geringem Freilauf am Hof in der prallen Sonne bei vermutlich zugefütterten Eicheln im niedrigen Schweinestall, argwöhne ich einige Kilometer später, als ich eine Schweinefarm kurz vor Fuente de Cantos passiere. Die Hitze potenziert den penetranten Schweinestallgeruch auf das Erbärmlichste.

Nach etwa zehn Kilometern lasse ich nach und nach die Eichen hinter mir, die Landschaft öffnet sich zu einer schaurig-schönen Ebene mit vertrockneter Grasnarbe in Gelb und Braun. So ähnlich habe ich mir die Via de la Plata seit Wochen und Monaten ausgemalt. Jetzt also wird es ernst.

In der Ferne ist schon Fuente de Cantos zu sehen. Ich habe gerade die Hälfte des Weges bis dorthin hinter mir. Gerne würde ich ein Päuschen machen, aber es gibt eigentlich so gut wie keinen Platz zum Sitzen. Irgendwann findet sich ein kleines Büschlein. Ich packe mein Sitzkissen und Proviant aus und kauere mich daneben. Derweil nähert sich John von hinten. Wir unterhalten uns eine Weile. Er würde wohl auch gerne eine Weile sitzen, aber es ist ihm hier zu unbequem und wohl auch zu staubig.

Ich lasse mir ebenfalls nicht wirklich viel Zeit. Es ist viel zu heiß und der Strauch, den ich mir als Schattenspender auserkoren habe, gibt nicht viel her. Hastig esse ich mein Brot und beeile mich weiterzukommen, denn bis Fuente de Cantos sind es noch zehn Kilometer und ich habe am Morgen beschlossen, noch sechs Kilometer weiter bis Calzadilla de los Barros zu gehen. Wann hat man schon mal den Luxus einer Wahlmöglichkeit hier auf der Plata! Im allgemeinen heißt weitergehen, dass man noch mindestens zwanzig Kilometer und damit eine ganze Tagesetappe weitergehen muss. Eine zweite Unterkunftsmöglichkeit nur sechs Kilometer nach der ersten ist hier absolut ungewöhnlich.

Ich möchte ein klein wenig Strecke aufholen, weil ich schon nach wenigen Tagen eine ganze Tagesetappe hinter meiner ursprünglichen Planung herhinke. Nicht, dass das aktuell ein Problem wäre. Aber wer weiß schon, wie es weitergeht? Ich habe gerne noch ein paar Trümpfe in der Hinterhand. Ein bisschen verlängere ich auch, um mir zu zeigen, dass ich es noch drauf habe. Ich will auf die langen Etappen hintrainieren, die mich hinter Mérida erwarten und vor denen ich heute schon gehörigen Respekt habe.

Am Ortseingang zu Fuente de Cantos hole ich John wieder ein. Er wird heute hier ein Quartier suchen. Aber jetzt ist auch für ihn erstmal ein Bar dran. Während wir uns zur nächsten Bar durchfrgen, zieht mich die geöffnete Pforte der hiesigen Kirche Nuestra Señora de la Granada an. Im weißen Taufbecken der Kirche ist Zurbarán getauft worden, einer der führenden Vertreter der spanischen religiösen Barockmalerei. Fuente de Cantos ist seine Geburtsstadt. Hier drinnen ist es kühl, die angenehme Temperatur und auch der Weihrauch, der den ganze Kirchenraum erfüllt, kühlt mein ganzes System herunter. Dennoch: Ich lechze nach einem kaltes Zischgetränk.

John hat auf mich gewartet. Gemeinsam steuern wir die erste Bar an, die auf den ersten Blick etwas schäbig wirkt, aber näher betrachtet sehr sauber ist. Und auch der Wirt ist ein ganz netter. Ich genehmige mir eine Zitronenlimo und einen Bocadillo und kaufe mir auch noch eine große Flasche Wasser, um meine Trinkblase aufzufüllen. Dann rufe ich erstmal in der Herberge von Calzadilla de los Barros an, um herauszufinden, ob sie geöffnet ist. Ist sie. Allerdings schärft mir die Señora am anderen Ende der Leitung ein, dass ich unbedingt vor drei Uhr da sein muss. Es kommt noch ein ganzer Schwall Worte hinterher, aber ich verstehe nur Bahnhof und bestätige, um den Wortschwall zu beeenden, nur noch einmal, dass ich komme. Am anderen Ende erstirbt ein ungesagtes inneres Stöhnen über die Extranjera, die nichts versteht.

Herrje, schon wieder Hektik! Es ist zwar erst viertel nach eins und ich rechne aktuell anderthalb Stunden für sechs Kilometer. Aber natürlich breche ich so schnell wie möglich auf. Dass der übereilte Abschied von John einer für immer ist, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich habe ihn nie wieder getroffen, aber ich erinnere mich noch gut an die Begegnungen in den ersten Tagen des Camino. Ich habe einiges über ihn erfahren und mit ihm geteilt und es fühlt sich heute noch an, als hätten wir uns sehr viel länger gekannt. So ist es auf diesem Weg: Menschen kommen und gehen, sie begleiten dich ein Stück und vielleicht sogar länger. Aber früher oder später ist der Abschied für immer, egal wieviel du mit ihnen geteilt hast.

Um kurz nach halb drei erreiche ich leicht angezählt die ersten Häuser von Calzadilla und finde auch recht schnell zur Herberge. Die allerdings ist völlig verrammelt. Ich rufe wieder an, und jetzt endlich kann ich mir einen Reim drauf machen, was mir die Señora sagen wollte. Ich muss mir den Schlüssel zur Herberge im Rathaus abholen. Ich frage mich durch und werde im Ayuntamiento freundlich empfangen. Anscheinend bin ich heute die einzige, die in der erst vor zwei Wochen eröffneten Herberge übernachtet. Die Señora drückt mir gleich zwei Care-Pakete mit je einer Flasche Wasser und einem Apfel in die Hand und verabschiedet mich mit dem gutgemeinten Rat, dass ich in Zukunft bei der Affenhitze nicht so lange in den Nachmittag hinein unterwegs sein soll. Auf dem Weg zur Herberge zurück beiße ich gierig in den ersten Apfel und bin überzeugt, dass ich noch nie ein so gutes Stück Obst gegessen habe.

Allein in der leeren Herberge fühlt sich ein wenig spooky an. Ich schaue erst einmal in alle Ecken, in jeden Winkel der Männertoiletten und Duschen, unter den Betten, und verriegele die Tür von innen.

Nach dem Duschen und Waschen mache ich mich auf die Suche nach einer ordentlichen Mahlzeit. Leider hat im Dorf nichts geöffnet. Man trifft um vier Uhr nachmittags auch kaum jemanden auf der Straße. Schließlich empfiehlt mir jemand das etwa einen Kilometer außerhalb gelegene Fernfahrer-Lokal an der Nationalstraße. Gerade als ich dort ankomme, ist der Wirt dabei, die das Lokal zu schließen. Ich frage ihn, ob er am Abend nochmal öffnet. Offenbar hat er Mitleid mit mir, denn er verzieht ironisch-resignierenden den Mund und dreht seine Augen zum Himmel. Anscheinend bringt er es nicht übers Herz, die hungrige Pilgerin abzuweisen. Glück für mich. Was ich essen möchte, will er wissen. – Ein paar Eier, Patatas und Salat. Mehr brauche ich nicht. – Kurzerhand verschiebt er seine Siesta und schmeißt für mich nochmal die Küche an.

Und wieder einmal bestätigt sich, was man so oft auf dem Weg hört: The Camino provides.

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