Jeder Tag ein neuer Anfang

Seit einigen Tagen ziert ein Wochenkalender von Harenberg meinen Schreibtisch. „Auf dem Jakobsweg 2021“ schenkt mir jede Woche ein Bildmotiv vom Camino, begleitet von einem sinnreichen Wochenspruch. Bernd hat mir den Kalender geschenkt und mir so gleich dreimal Freude gemacht. Erstens weil ich bei den Bildmotiven automatisch ins Träumen gerate, zweitens weil ich mit den Wochensprüchen für jede Woche ein Thema habe, das ich hier reflektieren kann. Und drittens, weil es sich um einen Postkartenkalender handelt und ich so motiviert bin, in diesem Jahr jede Woche einem lieben Menschen eine Karte per Post zu schicken. Mein Beitrag für eine neue Schreibkultur außerhalb der sozialen Medien.

„Jeder Tag ist ein neuer Anfang.“, sagt T.S. Eliott, und mich freut es bei diesem Jahreswechsel nach 2021 ganz besonders, dass ein so hoffnungsvoller Spruch ganz am Anfang steht. Ich selbst bin ja ein Kind des frühen Morgens. In aller Regel springe ich hoffnungsvoll aus dem Bett und sehe zuversichtlich in den Tag. Wer auf dem Camino Francés war, weiß, wie früh am Morgen es überall anfängt zu rascheln und zu kruschpeln. Die meisten verlassen rücksichtsvoll und schnell den Schlafsaal. Manche sind da ein bisschen grober. Und wieder andere lassen gerne auch mal ihren Handywecker laut auf die Allgemeinheit los, während sie selbst noch selig den Schlaf der Gerechten schlafen.

Meine Liebe zum frühen Morgen ist vielleicht auch mit dafür verantwortlich, dass ich Anfänge ganz besonders gern mag. Weil sie unbelastet sind und in der Anfangsenergie so viel Kraft steckt, dass ich ein Scheitern zuerst einmal gar nicht in Erwägung ziehe. Für mich, die ich so manches Mal Projekte nicht angehe oder nicht zu Ende bringe, weil ich den Misserfolg schon vorwegnehme, ist dieser klitzekleine Moment des Beginns die Angst-befreite Zone, in der sich alles entscheidet. Je weiter ich in diesem Moment mit meinem Projekt komme, desto größer die Chance, dass ich es auch zu einem Ende führe. So versuche ich mich zu überlisten.

Jeder Tag ein neuer Anfang heißt, ich kann das Vergangene hinter mir lassen und noch einmal völlig neu beginnen, und zwar nicht als unbeschriebenes Blatt, sondern mit der Erfahrung von gestern. Ich kann gereifter nach vorne gehen und meine Chance ergreifen.

Sonne, Hitze, Licht und Schatten spielen auf dem Camino Francés eine wichtige Rolle. – Natürlich tun sie das auch auf anderen Jakobswegen oder Pilgerwegen. Aber nirgends ist es mir so deutlich geworden wie auf dem Weg von St.-Jean-Pied-de-Port in Richtung Westen, nach Santiago de Compostela, Muxia und Finisterre.

Weil die Hitze im Sommer so groß ist, machen sich die meisten Pilger sehr früh am Morgen auf dem Weg. Das hat den Charme, dass man dann auch gegen spätestens vierzehn Uhr nachmittags irgendwo bleibt und damit noch einen halben Tag zur Erholung hat. Dieser Tagesablauf ist ideal für mich, die ich einerseits so gerne meine Erlebnisse aufschreibe, andererseits aber auch die Gesellschaft meiner Mitpilger suche, gerne in Gemeinschaft Essen gehe und mir natürlich auch noch in aller Ruhe die Umgebung der Ortschaft, in der ich gelandet bin, anschauen möchte. Das alles zusammengenommen ist schwer zu meistern, wenn man erst gegen Abend am Etappenziel ankommt.

Während man sich also in aller Herrgottsfrühe auf den Weg in Richtung Westen macht, hat man den Sonnenaufgang im Rücken. Wie oft habe ich mich umgeschaut nach der Sonne und über fünf Wochen hinweg einen atemberaubenden Sonnenaufgang erlebt! Mit diesen Sonnenaufgängen war auch mein Schatten, den ich vor mir her trug, immens lang. Noch heute muss ich hin und wieder schmunzeln, wie ich fünf Wochen lang beharrlich meinem eigenen Schatten folgte, bis ich ihn endlich hinter mir lassen konnte. Ich glaube, dass diese Lektion eine der wichtigsten auf dem Weg ist: Betrachte Deinen Schatten und lass ihn hinter Dir! – Zumindest war das für mich sehr bedeutsam.

Was hat das jetzt alles mit dem Jahreswechsel zu tun? – Nun, wenn wir von 2020 nach 2021 blicken, dann ist wohl für sehr viele Menschen, mich eingeschlossen, das Coronavirus das, was unser Leben unmittelbar am nachhaltigsten beeinträchtigt. Auch wenn 2020 für mich in vielerlei Hinsicht ein schönes und erfülltes Jahr war, so sehne ich mich doch danach, wieder unbeschwert unterwegs zu sein, Freunde endlich in die Arme zu schließen und Yoga wieder in Präsenzkursen zu unterrichten.

Auch wenn die begonnenen Impfungen ein wenig hoffen lassen, so wird uns das Virus und damit die Veränderung unserer Lebensbedingungen noch lange begleiten. Genau wie alle anderen, weiß ich nicht, was passiert. Ich habe es nicht wirklich in der Hand. Was ich aber gelernt habe, ist, mit dem Virus zu leben, mich und andere entsprechend zu schützen und auf das Gute zu vertrauen, auf den neuen Morgen. Dann mache ich mich auf den Weg, Schritt für Schritt, einen Fuß vor den anderen. Ich versuche, dabei achtsam zu bleiben. Ein Schritt bleibt ein Schritt, ob er nun beschwerlich ist oder leicht. Am Ende werde ich eine Strecke zurückgelegt haben. Jeden Tag von vorne. Und mit etwas Glück lassen wir in 2021 alle gemeinsam den Schatten „Coronavirus“ hinter uns.

In diesem Sinne: Al delante y buen Camino! – Und bleibt gesund!

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