Von Schmira nach Gotha

Die St. Nikolaus-Kirche in Schmira, einem Ortsteil fünf Kilometer hinter dem Erfurter Dom, beherbergt Pilger noch in einem guten Sinne. Dort wird man freundlich aufgenommen, es gibt zwar keine Dusche, aber ansonsten ist alles da, was man nach einem langen Tag zu Fuß benötigt: Kaffee und Marmelade für den Morgen. Tütensuppen für den allergrößten Notfall. Und sogar ein Bier pro Pilger bekommen wir hingestellt. Wir unterhalten uns draußen im Kirchgarten noch lange am lauen Sommerabend mit Annett, während ihre Tochter in der Kirchenbibliothek stöbert, die sich in der Empore befindet. Dort stehen auch unsere Feldbetten. Ein heimelig-freundlicher Raum mit zwei Tischen und vier Betten, einem Schaukelstuhl und vielen Büchern. Hier lässt es sich gut ruhen.

Am nächsten Morgen stehen wir auch sehr erholt auf, gönnen uns ein ausgiebiges Frühstück. Brot und Obst haben wir uns mitgebracht, der Rest kommt, wie gesagt, als Gruß aus der Pilgerküche. Ganze zehn Euro kostet uns das für die Nacht. Wir hätten auch etwas weniger geben dürfen.

Heute haben wir etwa einundzwanzig Kilometer vor uns und mögen es noch nicht so recht glauben. Die Kilometerangaben weichen doch von den per GPS ermittelten Daten teilweise erheblich ab. Wir möchten am Abend mit dem Zug von Gotha aus nach Frankfurt am Main zurückfahren. Es soll aber auch noch ein bisschen Zeit für eine Stadtbesichtigung sein, deshalb sehen wir zu, dass wir baldmöglichst losgehen.

Der Weg führt heute lange Zeit übers Feld, unter der A 71 hindurch. Asphalt wechselt sich mit Schotterpiste und zuweilen sehr angenehmen Wiesenwegen. Der Blick rundherum ist frei. Wir schauen weit ins Land auf die Drei Gleichen, die ich bisher nur von besagter Autobahn her kenne. Weit voraus gibt es eine hohe Kuppe, der Inselsberg. Das erfahren wir von einem der Radfahrer, die uns hier überholen und auch zuweilen gerne mal auf ein Schwätzchen anhalten. Unsere Rucksäcke machen neugierig. Hier in Thüringen ist auch wieder ein anderer Menschenschlag unterwegs. In Sachsen-Anhalt haben wir die Menschen gelinde gesagt zurückhaltend erlebt. Thüringen zeigt sich weit offener.

Der Weg führt nur selten durch eine Ortschaft, ist aber auf diesem Teilstück hervorragend ausgeschildert. Hier wird wohl auch sonst viel gewandert, was wir an den Schildern erkennen können. Und die Via Regia – oder der Jakobsweg, wie sie hier bezeichnet wird – führt eigentlich immer der Nase nach: geradeaus.

Durch Kleinrettbach gehen wir hindurch. Vor und hinter dem Dorf steht jeweils ein steinernes Kreuz. Im Dreißigjährigen Krieg sollen sich westlich und östlich von Kleinrettbach zwei Heere gegenübergestanden und in der Nacht zum Angriff gerüstet haben. Doch als es soweit war, kam Nebel auf und die Heere rannten aneinander vorbei und verfehlten sich. So die Sage. Deshalb haben die Kleinrettbacher hier zum Dank diese steinernen Kreuze aufgestellt.

Grabsleben lassen wir links liegen. In Tüttleben schauen wir einem Fußball–Lokalderby zu, bei dem es um etwas zu gehen scheint, wie man den aufgeregten Kommentaren der Spieler entnehmen kann. Über Siebleben führt der Weg dann nach Gotha. Das letzte Stück zieht sich mal wieder unendlich. Plötzlich kommt Wind auf und wir geraten in einen leichten Schauer. Gerade in dem Moment kommen wir an der St. Helena Kirche vorbei. Der Hausmeister sieht uns und fragt, ob wir die Kirche sehen wollten. Klar wollen wir. Ich darf sogar noch die Toilette im modernen Anbau nutzen. Und als wir wieder aus dem Kirchentor ins Freie treten, hat sich der Schauer verzogen.

Gotha wirkt auf den ersten Blick wie eine Stadt mit Potential. Es gibt auf dem Weg in die Stadt viele alte baufällige Gebäude, aber offensichtlich tut sich die Stadt schwer mit Investoren. Die Innenstadt mit ihrem historischen Rathaus ist allerdings sehr schön renoviert.

Die Augustinerkirche ist verschlossen. Das Tourismus-Büro hat bereits um 14 Uhr zu. Wir haben uns heute den ganzen Weg über auf Kuchen und einem ordentlichen Cappuccino gefreut. Aber Gotha wirkt an diesem Sonntagnachmittag wie ausgestorben. Wir haben sogar Schwierigkeiten, ein Café zu finden. Nun ja: Ein würdiges Ende für diese Pilgerzeit, in der wir schließlich so oft vor verschlossenen Türen gestanden haben, und doch immer wieder weiter gekommen sind.

Ein bisschen frustriert lassen wir uns am Ende neben gewaltigen Baustelle am Markt unterhalb des Schlosses bei einem Italiener nieder. Dort scheinen wir mit unserem einfachen Kuchenwunsch nicht ganz so willkommen zu sein. Der Apfelkuchen ist lecker, der Kaffee könnte italienischer schmecken. Aber wir sind schon zufrieden, dass wir jetzt mal eine Weile sitzen, um unser Zugticket online zu buchen.

Von hier bis zum Bahnhof sind es noch 1,6 Kilometer. Der Bahnhof wirkt verlassen und ein wenig runtergekommen. In zweieinhalb Wochen werden wir hier wohl wieder aussteigen, um die letzten Etappen der Via Regia bis Vacha zu pilgern.

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