Schon lange frage ich mich, warum ich auf dem Camino weite Strecken mit großem Gepäck scheinbar mühelos überwinde, während ich mich hierzulande auf den Wander- und teilweise auch den Pilgerwegen manchmal so quäle, ohne auch nur annähernd Strecken über dreißig Kilometer zurückzulegen. Meine Theorie, dass die vielen Menschen, die dort gehen und auch vor mir gegangen sind, auf irgendeine subtile Weise eine Kraft übertragen, mit der ich anscheinend in der Lage bin, über mich selbst hinauszuwachsen, ist von den meisten meiner Mitmenschen schon immer ein bisschen spöttisch belächelt worden.
Heute bin ich auf ein afrikanisches Sprichwort gestoßen: „Wenn du schnell gehen willst, geh allein. Wenn du weit gehen willst, geh zusammen.“ Dass man weiter kommt, wenn man die Kräfte bündelt, ist ja ein ganz bekanntes Phänomen. Jeder bringt seine Stärken mit ein, physisch und mental, wir unterstützen uns gegenseitig und sind in der Gruppe eher vor Gefahren von außen geschützt. Aber ist das wirklich alles?
Seit Jahrhunderten pilgern die Menschen auf dem Camino in eine Richtung, mal in Massen, mal eher in kleinerer Zahl wie in diesem Jahr, in dem uns Corona eine Pause aufgezwungen hat. All diese Menschen haben auf dem Weg ihre Spuren hinterlassen, haben Steine aufgesammelt, spirituelle Orte geschaffen, Altes zurückgelassen. Manchmal auch ihr Leben gelassen. Ich allein habe im Pilgerjahr 2017 in den 35 Tagen, die ich unterwegs war, so um die 1.75 Millionen Mal einen Fußabdruck auf den staubigen Pisten in Spanien hinterlassen. Das prägt und tritt sich unter den Fußstapfen meiner Nachfolger fest oder verweht als Staub im Wind. Ein Teil von mir ist immer noch dort; in meinen Gedanken, Erinnerungen und Träumen reise ich beinahe täglich dorthin und schöpfe heute noch Kraft aus dieser unversiegbaren Quelle.
Wenn ich mich an meinen Weg erinnere, dann ist es meistens weniger die körperliche Leistung, die mich fasziniert. Neunhundert Kilometer zu Fuß – das ist schon was. Doch ich habe nicht das Gefühl, dass es meine ureigene Leistung ist. Ich bin ganz zäh und schon immer gerne zu Fuß gegangen. Gut. Aber was mich getragen hat, das waren die Menschen, die mir zugelächelt haben, die mich ermuntert haben, wenn ich ganz unten war, die mich eingeladen haben, mich zu ihnen zu setzen. Die Pilger, die mir einen Verband oder ein Pflaster gereicht haben. Die mit mir gefühlt, gelacht und geweint haben. Die Menschen, die alle in die gleiche Richtung gegangen sind mit ihren Wunden, Träumen und Hoffnungen.
Wenn Du also weit gehen willst, verbinde Dich mit denen, die in Deine Richtung gehen. Sie mögen andere Wege einschlagen, Umwege machen, schneller oder langsamer gehen, Pausentage einlegen. Aber wenn es an der Zeit ist, dann werden sie irgendwo an einer Ecke wieder auftauchen als ein Zeichen dafür, dass wir alle miteinander unterwegs sind.