Im Corona-Jahr hatte ich ursprünglich maximal eine kurze Pilgerreise geplant, eher sogar zwei Kurzstrecken in zwei mal drei Etappen. Die erste Tour führte mich auf dem letzten Stück des Lutherwegs in drei Tagen von Groß-Gerau nach Worms. Damals gab es schon Corona, aber noch hat es niemand so richtig ernst genommen. Wirklich Ankommen hatte ich nicht geplant.
In der Zwischenzeit ist viel passiert. Meine Reisepläne nach Texas musste ich streichen. Aber am Ende hatte Corona bislang für mich nicht nur Enttäuschungen im Gepäck. Erst allein, dann gemeinsam mit Bernd, habe ich die nähere und auch weitere Umgebung erkundet und natürlich auch einige Camino-Strecken in Deutschland. Morgen brechen wir wieder auf. Die letzte Etappe des Lahn-Camino ruft.
Der Lahn-Camino ist eine wunderbare Strecke für einen Kurzurlaub. Radfahrer nehmen die Strecke am Fluss entlang, für Wanderer und Pilger geht es auf und ab. Meistens wandert man oben in der Höhe und hat von hier aus wundervolle Aussichten auf den Fluss und das Land. Der Lahn-Camino verläuft über hundertvierzig Kilometer zwischen Wetzlar und Lahnstein. Von hier sind es noch 2.200 Kilometer nach Santiago.
In den vergangenen drei Jahren bin ich immer in Santiago angekommen. Und das war auch beabsichtigt. Das Ankommen war mir genauso wichtig wie der Weg. Und ist es auch jetzt noch.
Ankommen werde ich also morgen in Lahnstein, wo die Lahn in den Rhein mündet. Das ist für mich ein ganz besonderer Tag, und ich bin voller Vorfreude darauf. Möglicherweise wird es sehr viel unspektakulärer sein, als wenn ich meine Füße von Dudelsackklängen untermalt auf die Praza do Obradoiro setze. Aber es ist ein weiterer Abschnitt, der zu Ende geht, auch wenn ich noch gar nicht so richtig weiß, was es damit auf sich hat.
Es entlockt mir ein Lächeln, wenn ich mich an mein Ankommen in Finisterre vor drei Jahren erinnere. Damals war das Ankommen für mich mit sehr gemischten Gefühlen verbunden. – ‚Und jetzt?‘ dachte ich damals, fiel in ein kleines depressives Loch und dachte zeitweise ernsthaft, dass ich alles falsch gemacht hätte. Denn schließlich hätte ich doch stolz auf mich sein können. Neunhundert Kilometer zu Fuß, das war doch was!
Aber ich war kreuzunglücklich, weil ich mir nun wieder überlegen musste, wie ich meinen Tag fülle. Ich vermisste das Gehen. Ich wusste noch nicht so ganz genau, wo ich innerlich angekommen war. Und ich vermisste ein neues Ziel.
Drei Jahre später beunruhigt mich das Ankommen nicht die Bohne. Im Gegenteil. Heute weiß ich, dass sich schon alles richtig fügen wird. „In the end, everything will fall into place“, wie mein Camino-Freund Keith sagt.
Ich habe gelernt: Am interessantesten wird es am Übergang zwischen zwei Phasen. Das eine noch nicht richtig abgeschlossen, das andere noch nicht begonnen. In diesen Phasen ist man nicht auf ein Ziel ausgerichtet, man driftet einfach so richtungslos vor sich hin. Das war nicht immer ganz leicht auszuhalten für mich, die ich so gerne eine Orientierung habe. Man kann in dieser Phase in ein dunkles Loch fallen und sich sehnsüchtig auf den Weg zurück wünschen, was einen aber keinen Streich weiterbringt. Oder man kann den Leerlauf nutzen, sich den Wind um die Nase streichen und die Sonne auf den Bauch scheinen lassen, bis irgendwann ein neues Ziel verheißungsvoll genug erscheint.
Ich bin gespannt, ob ich morgen für ein richtungsloses Driften bereit bin. Nun, und wenn nicht, dann muss ich eben nochmal ein Stück zurück oder einfach weiterlaufen.