Der erste Tag einer Pilgerreise ist immer besonders aufregend für mich. Früh um fünf Uhr bin ich bereits wach, Bernd auch. Beide wollen wir nicht bis zum Frühstück um halb acht warten. Wir haben uns auch eine längere Etappe für heute vorgenommen. Knapp siebenundzwanzig Kilometer stehen an. Ich bin nervös. Gestern haben wir uns für heute Abend in der Pilgerherberge in Buchholz angekündigt, und bei diesem Telefonat fiel in einem Nebensatz so ein Spruch wie „… ich sag’s nur, weil es ein bisschen weiter ist als in dem Pilgerbuch angegeben…“.
Es hält uns also nichts und wir beschließen kurzerhand, das bereits bezahlte Frühstück sausen zu lassen und uns in der am Weg gelegenen Jesus-Bäckerei zu versorgen. Die öffnet am Samstag bereits um sechs Uhr, was offensichtlich einige Görlitzer genauso zu schätzen wissen wie wir. Es herrscht reger Betrieb dort.
Der Weg aus Görlitz hinaus führt am Heiligen Grab vorbei, das der damalige Bürgermeister der Stadt, Georg Emerich, Ende des 15. Jahrhunderts als Kopie des Heiligen Grabes von Jerusalem hat erbauen lassen. Emerich nämlich hatte die Nachbarstochter geschwängert, eine Heirat wurde von der Familie aus politischen Gründen verhindert. Und so blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sich 1465 auf eine Sühnepilgerfahrt ins Heilige Land zu begeben. Offensichtlich hatte er damit noch nicht genug Buße getan, so dass er sich mit der Errichtung des Heiligen Grabes wohl ein gnädiges göttliches Urteil am Ende seiner Lebensreise erhofft hat.
Wir gehen hinaus auf die Höhe in Richtung Ebersbach und genießen die Weitsicht. Hinter uns schält sich auf polnischer Seite das Riesengebirge aus den Wolken. In Ebersbach läuten, scheinbar nur für uns, die Glocken der Kirche St. Barbara. Das ist unsere erste offene Kirche für heute. Und wie wir erleben werden, gibt es eigentlich so gut wie keine Kirche, die in diesem Teil Deutschlands verschlossen ist.
Weiter gehts über Liebstein und die Königshainer Berge mit dem Hochstein, wo wir den zittrigen Metallturm erklimmen. Oder besser gesagtt: wo ich mit zitternden Beinen den Turm erklimme und mich beherrschen muss, nicht mittendrin unter fadenscheinigen Vorwänden kehrt zu machen.
Der Arnsdorfer Forst in den Königshainer Bergen, auf dem besagter Turm steht, scheint irgendwie einer ganz besonderen Schwingung zu unterliegen. Über mehrere Kilometer hinweg gibt es zahlreiche eigenwillig gewachsene Bäume: Zwillings-, Drillings- und Vierlingsbäume. Bäume, deren Stämme eine ovale Öffnung bilden, um weiter oben wieder zusammenzuwachsen. Dazwischen liegen riesige Granitfelsen wie schlafende Riesen aus uralter Zeit. Der Teufelsstein erinnert an einen behelmten Soldaten.
In Melaune, etwa vier Kilometer vor unserem Tagesziel, hoffen wir auf einen Laden, in dem wir Essen für heute Abend einkaufen können. Es gibt da auch einen kleinen Supermarkt, der aber samstags nur zwischen sieben und zehn Uhr morgens geöffnet hat. Für wen auch? Wir bekommen tagsüber kaum einen Menschen zu Gesicht. Und das an einem Samstag. Die Dörfer sind zum Teil wie ausgestorben. Dabei fallen vor allem die wunderschön gestalteten und gepflegten Gärten auf. Ich frage mich: Wann machen die Leute das? Müde setzen wir uns auf die breite Treppe des Wohnhauses neben dem Supermarkt. Wie sich herausstellt, wohnt hier die Vermieterin des Ladenlokals. Sie sagt, zum Einkaufen müssten wir bis Weißenberg gehen. So weit wollten wir heute nicht mehr. Außerdem haben wir uns in Buchholz schon in der Pilgerherberge angemeldet. Wir rappeln uns also hoch und gehen weiter.
Auf dem Feld hinter Melaune stehen Windräder Spalier. Hier sollte in den neunziger Jahren eine Abraumhalde für radioaktives Material entstehen. Wir können es kaum fassen. Die Gegend hier ist so wunderschön. Wie um alles in der Welt kann man auf so eine absurde Idee kommen? Zum Glück haben Dorfgemeinde und Pfarrer sich für ihre Heimat eingesetzt und das verhindert.
Als wir schließlich in Buchholz ankommen haben wir so um die zweiunddreißig Kilometer auf der Uhr. In der Tat: ein bisschen mehr als im Pilgerbuch angegeben. So um die fünfeinhalb Kilometer, um genau zu sein.
Zur Alten Schule, der Pilgerherberge, gehen wir um den Dorfteich herum und stehen vor einem freundlich anmutenden Haus. Wir rufen unsere Herbergsmutter an, die wenig später mit ihrer Enkeltochter kommt und uns mit frischem Rhabarberkuchen willkommen heißt. Wir haben heute die ganze Herberge für uns allein. Kaffee gibt es vor Ort, Milch auch und ein bisschen Käse. Nur das Brot mussten wir uns mitbringen.
Erst mal Kaffee und Kuchen und eine schöne Dusche, und wir haben wieder Energie, um nochmal anderthalb Kilometer zurück ins benachbarte Tetta zu laufen, wo inzwischen die „Deutsche Eiche“ ihre Küche geöffnet hat.
👍5 km mehr ist schon heftig..
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