Seit einiger Zeit machen wir uns nun weltweit Gedanken darüber, wie wir aus der Corona-Krise heraus wieder in die Normalität zurückfinden können. Die Infektionskurve flacht in weiten Teilen ab, aber wir alle wissen, dass es nicht diesen einen Punkt geben wird, ab dem wir das Leben draußen wieder gemeinsam feiern können. Zu vieles ist noch völlig unsicher, ungeklärt, mysteriös. Wir wissen nicht, warum zum Teufel in Schweden das öffentliche Leben nicht heruntergefahren wurde und es trotzdem nicht zu einer Katastrophe kam. Wir wissen auch gar nicht so genau, warum in Deutschland relativ wenig Menschen bisher gestorben sind und warum bei unseren Nachbarn so viele. – Natürlich wird darüber spekuliert, theoretisiert. – Aber Wissen? – Nun ja.
Wer auf dem Jakobsweg unterwegs war, der hat es mit Sicherheit erlebt: Wir nähern uns Santiago und dem Cap Finisterre, dem Ende der Welt, in der Regel mit sehr gemischten Gefühlen. Wir haben uns an den minimalistischen Alltag aus „Gehen, Essen, Schlafen, Weitermachen“ gewöhnt und wir haben ihn einigermaßen liebgewonnen. Wir haben uns anders kennengelernt, wir sind andere als wir zu Hause gewesen sind. Und jetzt müssen wir wieder zurück in unser altes Leben. Und wir fragen uns: Wie soll das gehen?
Ich muss sagen: Vor diesem Zurück hatte ich auf meinem Camino 2017 eine Heidenangst. Wochenlang war ich unterwegs gewesen, hab die Weite der Landschaft in mich aufgesogen, bis sie in meinem Herzen angekommen ist als pure Lebensfreude. Und nun sollte ich mich wieder an einen Schreibtisch in einem engen Büro zwängen? Ich fragte mich, wie um alles in der Welt ich das bewältigen sollte. Manche von uns kommen in ein Zuhause, wo sie vielleicht von einem Partner erwartet werden, der hilflos ist angesichts unserer eigenen Fremdheit. Wir fühlen uns unverstanden, unsere Begeisterung wird mit leeren Blicken erwidert. Wie also soll das weitergehen?
Es ist wohl ein Fluch unserer Zeit, dass wir Zeit und Raum so schnell überwinden können. Wir gehen heute nur den halben Weg – oder sogar noch weniger. Und meistens kommen wir per Flieger, Bus oder Bahn wieder von Santiago nach Hause zurück. 2017 hatte ich nach sechs Wochen Fußweg einen direkten Rückflug von Santiago und stieg zwei Stunden später in Frankfurt aus dem Flugzeug aus. Bumm! – Ich brauchte mindestens drei Monate, um das zu verarbeiten, verbrachte tränenreiche Abende mit Youtube-Videos und Vino Tinto und wünschte mir nichts sehnlicher als wieder auf den Weg zurückzukehren.
Ich möchte nicht das Leid vieler in Abrede stellen, die von der Krise materiell oder gesundheitlich stark gebeutelt sind, deren Existenz bedroht ist oder die um Angehörige bangen oder sich gar verabschieden mussten. Ich kann mich nur vor all den Menschen verbeugen, die in den letzten Wochen schier Unmenschliches geleistet haben, die Pflegekräfte und Ärzte, die Angestellten in den Supermärkten, die Ordnungskräfte und Helfer. Alle, die in dieser Zeit an der Front waren und es noch sind. Und auch, wenn ich meine Leistung in dieser Zeit eher geringschätzen konnte, so hab ich doch auch meines dazu beigetragen, dass vielleicht auch noch ein bisschen Business gelaufen ist. Nun, mein Beitrag ist schwach, das weiß ich wohl, aber jeder versucht halt nun mal auf seine Weise, den Laden am Laufen zu halten.
Die Einschränkungen haben mir jedoch die Augen geöffnet für das Notwendige. Sie haben mir einmal mehr gezeigt, dass ich mit sehr viel weniger auskomme, wenn ich mich nur ein bisschen einschränke. Ich muss auch nicht mehr wegen irgendeiner vergessenen Kleinigkeit in den Supermarkt gehen, sondern ich komme mit dem aus, was da ist. Und darin bin ich sehr kreativ geworden.
Meine Beziehungen und Freundschaften sind intensiver geworden. Ich bewege mich viel häufiger aus meinem Alltagstrott heraus und melde mich, wenn auch nur für ein kurzes Telefonat. Mir ist auch sehr viel mehr bewusst geworden, was ich selbst benötige, und ich fordere es ein. Ich habe aufgehört, mit mir selbst Verstecken zu spielen, und ich bin bereit, mich verwundbar zu machen und trotzdem zu mir zu stehen.
Freilich, ohne ein wenig mehr kreativen Freiraum hinsichtlich meiner Zeiteinteilung wäre das nur schwer möglich gewesen. Wie viele andere sitze ich seit Wochen dauerhaft im Home Office und spare mir dadurch mindestens eine Stunde Fahrt pro Tag. Das Leben ist in dieser Hinsicht für mich sehr viel einfacher geworden.
Ich fange an, mich für die Schönheit meiner nächsten Umgebung zu öffnen. Heute war ich mit meiner Freundin Annette im Taunus wandern. Nur wenige Kilometer entfernt von meinem Zuhause habe ich dabei vollkommen neues Terrain betreten. Das will was heißen, bin ich doch im Grunde sowieso am liebsten draußen und viel unterwegs. Aber es gibt auch hier noch jede Menge unbekannte Wege.
Also: Wie wird es mir gelingen, die neuen Erfahrungen in meinem Leben zu integrieren? Und wohin führt der Weg zurück?
Eines ist jetzt schon klar: Wer so weit gegangen ist, um eine Erfahrung zu machen, wird niemals wieder genau dahin zurückkehren, wo er hergekommen ist. Die eigentliche Transformation findet nicht auf dem Weg ans Ende der Welt statt. Erst wenn Du zurückkehrst, wird sich zeigen, wer Du geworden bist. Wer kann jetzt und heute schon sagen, wie das ausgehen wird? Ich denke, es bleibt weiterhin spannend.
Buen Camino! Ultreia!