Die Krise meistern (VI) – Dem inneren Kompass folgen

Gestern Nachmittag ging ich durch die Straßen von Oberursel. Es war deutlich, dass es eine neue Entwicklung in Sachen Corona gegeben hat. Kleine Geschäfte schienen sich auf eine Wiedereröffnung vorzubereiten. Ich hatte die Nachrichten noch nicht gelesen. Mein Smartphone lag zu Hause auf dem Schreibtisch. Ich hatte es absichtlich dort liegenlassen, weil ich andauernd in Erwartung neuer Nachrichten, Textmessages und Emails drauf schaue, um zu prüfen, ob ich noch in die richtige Richtung unterwegs bin. Anstatt einfach nach draußen zu gehen im Vertrauen darauf, dass die Welt sich auch ohne mein dauerndes Kontrollverhalten weiter dreht.

Die Corona-Krise und die damit verbundenen Folgen haben auch bei mir einiges an altem Staub aufgewirbelt. Ich musste meine Reise nach Texas stornieren, die ich so lange geplant hatte. Wie gerne hätte ich die Camino-Freunde dort getroffen. Ich werde sie schmerzlich vermissen.

Durch die unfreiwillige Isolation bin ich zur Eremitin mutiert und mehr als je zuvor auf mich selbst zurückgeworfen. Ich horche aufmerksamer in mich hinein und gehe bewusst neue Wege in meiner nahen Umgebung. Bisher dachte ich immer, ich kenne hier in der Gegend alles, was ich zu Fuß erreichen kann. – Falsch gedacht. Es gibt immer wieder Neues zu entdecken. Ich werde wohl meine Landkarte neu zeichnen müssen.

Was außen passiert, hat in jedem Fall auch Auswirkungen auf meine Gefühls- und Gedankenwelt. Ohne die Ablenkung meines ereignisarmen Alltags führt der Weg nach innen schnurstracks in Gegenden, die ich mir lieber nicht so genau angeschaut hätte. Ich beginne, die Beziehungen zu meinen Weggefährten zu betrachten. Dabei stehen diese Beziehungen gar nicht selbst auf dem Prüfstand, da ich glücklicherweise mit ausschließlich wunderbaren Menschen innig verbandelt bin. Vielmehr geht es darum auszuloten, wie ich besser und – in einem Fall auch weniger dysfunktional – in Verbindung bleiben kann.

Auf jedem Weg, im richtigen Leben wie auf dem Camino, gibt es Ereignisse und Einschnitte, die danach rufen, dass man den Kurs ändert oder sich vielleicht auch für einige Zeit von den liebgewonnenen Weggefährten verabschiedet. Ein vielleicht erst dumpfes Gefühl, das im Inneren bohrt, immer wieder, bis man endlich bereit ist, es wirklich wahrzunehmen. Manchmal, so sagt meine Freundin Fabienne, ist es auf Dauer schmerzhafter zu bleiben als zu gehen.

Wie oft bin ich, völlig in Gedanken versunken, auf dem Camino vom Weg abgekommen? Einige Male, so stellte sich später heraus, haben mir andere Pilger hinterhergerufen, gepfiffen und gerufen, aber ich habe sie nicht gehört. So manches Mal hatte ich selber Mühe, einen anderen Pilger auf den richtigen Weg aufmerksam zu machen.

Viele Male trottete ich dahin, ohne auf die Wegzeichen zu achten und verlor die Zeichen. Und irgendwann bohrte sich ein dumpfes Gefühl in mein Bewusstsein, bis ich endlich aufschrak und feststellte, dass ich den gelben Pfeil verloren hatte. Was tut man in der Situation? – Nun, ganz einfach: Man geht zurück, solange, bis man wieder ein Wegzeichen findet. Alles auf Null.

In Herzensangelegenheiten wie im Alltagsleben ist es nicht ganz so einfach. Da kommt es darauf an, dass man dem eigenen Kompass vertrauen kann. Das erfordert Bereitschaft und Mut. Bereitschaft, entgegen der Vernunft aus dem Bauch heraus zu handeln. Den Mut, unbekannte Wege zu gehen und vielleicht auch bei Mitmenschen anzuecken.

Ich jedenfalls neige dazu,  immer erst einmal den einfachen, weil vertrauten Weg einzuschlagen. Aber der Weg wird deshalb nicht richtiger und zielführender, nur weil er mir bekannt ist. Manchmal muss man einen klaren Kurswechsel vornehmen, erst einmal neue Wege einschlagen, ein klares Gespür für den eigenen Standpunkt entwickeln, sich von den Weggefährten für einige Zeit verabschieden. Ohnehin wird man sich wieder treffen, wenn man weiterhin in die gleiche Richtung geht.

Mein Camino-Freund Keith hat mir vor meinem Weg auf dem Camino Primitivo eine kleinen grünen Kompass geschenkt, den ich seitdem immer an meinem Rucksack trage. Er erinnert mich daran, dass ich meinem inneren Kompass vertrauen kann.

Wir lesen uns wieder in drei Tagen. Bis dahin „Buen Camino“!

 

 

 

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