Aus dem Japanischen kommt eine Übung, die mir beharrlich immer wieder begegnet. „Naikan“ bedeutet Innenschau und wurde in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Ishiin Yoshimoto entwickelt. Naikan ist eine Technik der Selbsterfahrung, mit der man drei Fragen reflektiert, die geeignet sind, unser eigenes Selbstbild und unsere Beziehung zu anderen geradezurücken und damit Verantwortung für die äußere Welt zu übernehmen.
Die Fragen sind:
- Was hat eine bestimmte Person für mich getan?
- Was habe ich für diese Person getan?
- Welche Schwierigkeiten habe ich dieser Person bereitet?
Ein spannendes Thema, dem ich umso aufgeschlossener gegenüberstehe, nachdem ich mich vierzig Tage lang in Dankbarkeit geübt habe. Was ich so leichthin zu einer Übung während der Fastenzeit erklärt habe, hat eine beachtliche Entwicklung in Gang gesetzt.
Während ich am Anfang noch ein wenig holprig über das Thema reflektiert habe, spüre ich inzwischen mit Leichtigkeit alles Mögliche auf, wofür ich dankbar sein kann. Mehr noch: Ich betrachte Menschen in meinem Umfeld sehr viel wohlwollender. Menschen, die mir nicht nahestehen und deren Freundlichkeit ich zuvor oft als selbstverständlich vorausgesetzt habe, wie z.B. meine Gemüseverkäuferin oder die junge Frau hinter der Theke des Cafés an der Ecke. Aber auch Menschen, mit denen ich durch meine Arbeit zu tun habe und mit denen Verhandlungen nicht immer so leichtfüßig sind. Ich habe inzwischen eine Antenne dafür bekommen, dass Schwierigkeiten manchmal tatsächlich meine Achtsamkeit schulen und das Beste aus mir herausholen.
Es ist ja eine Sache, einem geliebten Menschen gegenüber Dankbarkeit auszudrücken. Die eigene Schwester, die beste Freundin, ein guter Freund. Doch wie gelingt es, Menschen gegenüber offen zu bleiben, von denen man sich immer wieder enttäuscht gefühlt hat?
Ein wichtiger Schritt, Dankbarkeit auch in schwierigen Beziehungen zu empfinden, ist die Vergebung. Und damit bin ich nach diesen vierzig Tagen bei dem Thema angelangt, das mir am allerschwersten fällt. Mir selbst und anderen zu vergeben. Mit dem Unvermögen des Verzeihens geht auch eine negative Einstellung zum Leben an sich einher. Hat man sich zum Beispiel in der Kindheit nur gegen die verantwortlichen Erwachsenen abgrenzen können, indem man sich über ein „Nein“ definiert hat, hält sich dieses „Nein“ beharrlich als Gewohnheit in späteren Jahren, auch wenn diese Art der Nicht-Identifikation mittlerweile völlig überflüssig geworden ist. Wer nicht verzeiht sagt „nein“ zum Leben. Diese Negativität nimmt gefangen und schränkt ein. Kurz: Sie nimmt die Freiheit und behindert eine freie Entwicklung. Das ist das Thema, das mich in diesem Jahr auf meinen Pilgerwegen begleiten wird.
Während ich heute auf meiner Laufrunde diesen Gedanken nachhänge, fällt mein Blick auf einen Stein. Ich möchte ja noch einen Stein mit auf den Camino nehmen, um ihn dort als Symbol für meine Last zurückzulassen. Nach einem kurzen Stopp entscheide ich, dass er zu groß und zu schwer ist. Fast will ich schon weiterlaufen, als mir in den Sinn kommt, dass ich schon wieder Verantwortung abschiebe. Ich gehe also nochmal ein paar Schritte zurück, hebe den Stein auf und nehme ihn mit. Er wird mich beim Pilgern auf dem Lutherweg und dem Camino dieses Jahr begleiten. Und wenn es so weit ist, dann lasse ich ihn zurück.