Irgendwann während des Camino kommt ganz sicher der Moment, an dem man sich fragt, ob man eigentlich wirklich noch weitergehen will. Bei mir ist dieser Punkt heute erreicht. Seit über drei Wochen bin ich auf dem Weg, die Hälfte der Strecke habe ich allein zurückgelegt. Und jetzt erscheint mir die ganze Unternehmung mit einmal mehr als fragwürdig. Was soll es mir bringen, wenn ich jetzt noch weitere zehn bis zwölf Tage gehe?
Der Gedanke, dass ich doch jetzt genug gepilgert sein könnte, überfällt mich hin und wieder. Doch stur, wie ich nun einmal bin, gehe ich einfach darüber hinweg. So auch heute. Schwerfällig schäle ich mich aus dem Bett, packe meine Siebensachen und gehe hinunter zum Frühstück, das im Hotel heute schon um 6 Uhr bereitsteht. Mit etwa drei bis vier Metern Länge bietet das Buffet eine Abwechslung, wie ich sie auf dem Camino überhaupt noch nicht erlebt habe. Die Auswahl scheint mir kompliziert und fällt mir mittlerweile schwer. Aber ich freue mich darüber, dass ich die Wahl habe.
Um mein Glück perfekt zu machen, treffe ich im Frühstücksraum dann doch noch ein Pilgerpaar aus Texas. Beide haben Fußprobleme. Der Mann fährt seiner Frau seit längerem schon mit dem Bus oder Taxi hinterher. Sie scheint zäh entschlossen, bis Santiago zu Fuß zu gehen. Aber heute sieht es nicht gut für sie aus. Sie ist den Tränen nahe.
Solche Momente sind schwierig. Unweigerlich denke ich darüber nach, was ich in dieser Situation tun würde. Eine Pause einzulegen, die Gefährten ziehen zu lassen und vielleicht nicht wiederzusehen, erscheint nicht nur mir sehr schwierig. Aber was will man machen, wenn jeder Schritt so schmerzt. Und ist es nicht ohnehin so, dass der Weg für uns das bereithält, was wir benötigen, nicht das, was wir uns wünschen? – Während dieser Überlegungen wird mir klar, dass ich noch immer nicht die Kontrolle abgegeben habe. Ich denke immer noch, dass ich bestimme, wie ich den Weg gehe. Doch der Weg entsteht erst im Gehen. Und was ich heute noch nicht weiß: In ein paar Tagen werde ich das selber zu spüren bekommen.
Heute dauert es lange, bis ich endlich die Vororte von Ponferrada hinter mir lasse. Über sieben Kilometer muss ich gehen. Aber dann führt der Weg durch ein zauberhaftes, fruchtbares Tal mit vielen Gemüsegärten, Weinreben, Oliven. Es ist eine wunderschöne Gegend. Auf dem ebenen Wegstück spüre ich aus heiterem Himmel ein scharfes Ziehen in meiner rechten Wade und bin gezwungen, meinen Schritt zu verlangsamen. Es erinnert mich an meinen dritten Lauftag. Doch diesmal reicht es nicht, nur etwas kleinere Schritte zu machen. Es ziept ordentlich, und ich humpele ein paar Kilometer dahin, ein bisschen ängstlich, ob ich jetzt auch in die Knie gezwungen werde.
Auf dem Weg treffe ich immer wieder einer größeren holländisch-spanischen Gruppe, die zu einem Projekt „Mit Bewegung gegen Diabetes“ gehören. Nichts gegen dieses Engagement, aber große Gruppen haben die Eigenschaft, immer laut unterwegs zu sein. In Cacabelos stürmen sie gleich die erste Bar, die sich in einem schönen Innenhof befindet. Einer der holländischen Guides ist mir besonders unangenehm, ein lauter Typ, der seine Leute unwirsch herumkommandiert. Ich sehe zu, dass ich dort wegkomme, und suche mir eine andere Bar.
Im Hostal Restaurante La Gallega setze ich mich und bestelle ein Bocadillo und Café con Leche. Der etwa dreizehnjährige Junge vom Nachbartisch spricht mich an. Er ist ein ganz aufgewecktes neugieriges Kerlchen und mit seiner Großmutter unterwegs. Sie kommen aus North Carolina und sind heute in Ponferrada gestartet. Es ist ganz aufgedreht wegen des Abenteuers ‚Camino‘. Beim Gehen legt er ein mordsmäßiges Tempo vor, so dass ich schon beinahe Schwierigkeiten habe, ihm zu folgen. Die Pause hat meiner Wade gut getan, aber ich bin ein wenig vorsichtiger geworden.
Hinter Cacabelos zieht sich der Weg recht steil an der Straße entlang nach oben, bevor er dann rechts ab auf einer Schotterpiste weiter verläuft. Die Landschaft erinnert mich heute etwas an das Rioja. Rote Erde, Weinreben, Olivenbäume, Mandelbäume. Es ist wieder mal brütend heiß, so um die 35 Grad. Meine Füße schmerzen und ich will nur noch ankommen. Der Weg bis Villafranca del Bierzo zieht sich und irgendwann wiegt die Schönheit der Landschaft auch nicht mehr meine Schmerzen auf. Ich muss ein paar kleinere Pausen einlegen und fühle mich ziemlich erschöpft als ich endlich ankomme.
Die Herberge Leo, für die ich mich heute entschieden habe, ist fast am Ortsausgang. Ich irre in der Mittagshitze eine ganze Weile umher, frage auch ein paar Spanier, bis ich sie endlich finde. Ein besonders schönes Natursteinhaus mit Innenhof und großzügigen Zimmern. Hier fühle ich mich sofort wohl.
Meine Bettnachbarin ist Slowenin und heißt Tina. Wir gehen am Abend gemeinsam essen. Sie hat ihre Camino-Familie aus den Augen verloren und hofft, bald wieder Anschluss an den einen oder anderen zu bekommen. Das ist ein Dauerbrenner auf dem Camino. Du triffst dich, trennst dich wieder, läufst eine Zeitlang allein, findest dich und dann auch schließlich die anderen wieder. Alles wie im richtigen Leben, aber zeitlich komprimiert, so dass du am Ende verstehst: Es ist alles gut, so wie es ist. Es gibt keine falschen Entscheidungen. Und wenn du mal falsch abbiegst, dann musst du halt zusehen, dass du wieder in die Spur kommst. All das scheint so viel einfacher als im Alltag und ist doch ein genaues Abbild des Lebens. Ich hoffe, ich kann mir diese Einfachheit bewahren.