Die Nacht war unruhig. Es ist mal wieder Wochenende. Gestern Abend ist sehr spät noch eine Gruppe junger Männer im Nebenzimmer untergekommen. So gegen zwei Uhr morgens kehren sie von ihrer nächtlichen Tour zurück und feiern im Nachbarzimmer lautstark weiter.
Beim Rausgehen am Morgen ist klar: In der Stadt sind wieder eine ganze Menge Betrunkener unterwegs. Ich erinnere mich an Burgos, fühle mich unwohl. Der Weg zur Stadt hinaus zieht sich elend lang. Im Halbdunkel übersehe ich dann und wann die Wegzeichen, muss immer wieder zurück, um mich zu orientieren. Schon bald sind wir aber drei, die aus der Stadt hinausziehen. Ewig lange Wohngebiete, Industriegebiet. Bis Virgen del Camino, ein hässliches Straßendorf, sind es acht Kilometer. Dort mache ich erstmal Halt in einer Bar direkt an der Straße. Nicht besonders schön, die Tortilla und der Kaffee sind auch nicht besonders lecker. Aber der Kellner ist sehr nett und respektvoll.
Hungrig schlinge ich die Tortilla hinunter. Hinter mir höre ich das Klacken von Wanderstöcken auf dem Asphalt, das sich kurz hinter mir etwas verlangsamt. Ich drehe mich um. Ist nicht wahr! Roger steht vor mir. Seit der kurzen Begegnung in Castrojeriz haben wir uns nicht mehr gesehen. Gestern Flavio und Lorena, heute er! Wir können die ganze Zeit über nicht weit auseinander gewesen sein. Aber der Weg hat mir die Zeit mit mir allein gegeben, die ich so dringend gebraucht habe.
Roger geht den direkten Weg nach Hospital de Orbigo, der an der Straße entlang führt. Ich habe genug von Straßen und entscheide mich für die Wegalternative über Villar de Mazarife. Die ist zwar fünf Kilometer länger, soll dafür aber sehr viel schöner sein. Die ersten Kilometer führen mich durch eine Ebene mit spärlichem Bewuchs, fernab von Landstraßen. Die Werbetafel für den „Humanitarian Help Point“ in Oncina de la Valdoncina bringt mich zum Lachen. Zu gerne hätte ich der Bar einen Besuch abgestattet, aber heute stehen achtunddreißig Kilometer an, und es sieht so aus, als würde es sehr heiß werden.
Ich denke heute sehr viel über meine Begegnungen nach und auch über die Entscheidung für das Alleinsein während des Gehens. Ich möchte mich nicht verpflichten, nicht festlegen. Es ist mir so wichtig geworden, in jedem Augenblick einfach wahrzunehmen und zu tun, was ansteht. Und dennoch: Die Dürrezeit, wie ich meinen Weg durch die Meseta nenne, scheint allmählich zum Ende zu kommen. Ich habe wieder das Bedürfnis nach Gesellschaft, auch wenn ich mich nicht mehr so fest an einige wenige Menschen binden möchte.
In Villar de Mazarife finde ich einen kleinen Lebensmittelladen. Ich frage die Verkäuferin, ob sie mir ein Sandwich macht. Sie lacht mich aus. Nein, da müsse ich mir schon Brot und Käse kaufen und mir das Sandwich selber machen. So ist das in Spanien. Vor dem Laden treffe ich das Ehepaar aus Konstanz. Wir werden uns am Abend in der Alberge Verde in Hospital de Orbigo treffen. Dort soll es heute eine Art Yoga-Festival geben. Außerdem gibt es hier vegetarisches und veganes Essen gegen Spende. Endlich mal etwas Abwechslung auf dem Speiseplan.
Die zehn Kilometer von Villar de Mazarife nach Villavante scheinen endlos. Die Straße führt schnurgeradeaus, der Horizont scheint sich überhaupt nicht zu verändern. Es ist unerträglich heiß, so etwa achtunddreißig Grad. Kein Schatten weit und breit. Meine Füße leiden auf dem Asphalt. Ich befürchte, dass ich mir heute zum ersten Mal Blasen laufe. Die Hitze staut sich in dem Goretex. Es juckt.Endlich taucht in der Ferne eine Baumreihe auf, das könnten Pappeln sein. Der versprochene Bach, an dem entlang der Weg weiterführt, bis nach Villavante.
Auf den letzten fünf Kilometern muss ich mehrere Pausen einlegen. In Hospital de Orbigo führt eine riesige Römerbrücke über ein ausgetrocknetes Flußbett. Ich durchquere den Ort und muss am Ende noch einen weiteren halben Kilometer bis zur Albergue Verde gehen.
Aber dort werde ich heute wirklich für die Mühen belohnt. Das Haus ist eine umgebaute Scheune, der Garten ist riesig. Mincho und seine Helfer und Helferinnen sind sehr freundlich und unkompliziert. An der reichhaltigen Tee-Auswahl kann man sich nach Belieben bedienen. Der Schlafsaal ist angenehm, das Bad sauber. Ich fühle mich auf Anhieb wohl und genieße den Schatten im Garten der sich bald mit Gästen füllt, die zum Yoga-Festival gekommen sind. Am späten Nachmittag gibt es eine Yoga-Stunde, aber niemand scheint zu wissen, aus welcher Tradition. – Egal. Ich lasse mich überraschen.
Und dann geschieht mal wieder ein kleines Wunder. Es ist eine Kundalini Yoga-Stunde, eine Tradition, die ich selber unterrichte; die erste Übung schon gleich begleitet von dem Mantra, das ich den ganzen Weg über schon laut oder leise während des Gehens rezitiere. Wieder habe ich ein kleines Stück Heimat gefunden.
Nach dem Yoga schwoft die ganze Gemeinschaft, junge Leute aus der Umgebung und Pilger vereint, zu cooler Musik durch den Garten. – Allerdings: Irgendwann teilen sich die Lager. Die Pilger sind hungrig, die anderen Gäste scheinen kein Ende finden zu wollen. Es ist schon halb neun, als endlich das Essen auf den Tisch kommt. Mincho verlangt uns ein paar Lieder ab, bevor wir zugreifen dürfen, sehr charmant, aber dennoch: Für den einen oder anderen wird es zu einer Belastungsprobe. – Am Ende, schließlich einigermaßen gesättigt, sind alle wieder zufrieden.