Zwanzig Minuten vor sechs Uhr in der Frühe betrete ich heute die Straße. Ich hab wider Erwarten gut geschlafen, obwohl ich wegen des großen Schlafsaals mit vierzig Leuten in einem Raum die größten Bedenken hatte. Meine Ängste zerstreuen sich häufig auf diese Weise. Ich scheine mir wirklich dauernd Sorgen wegen nichts zu machen.
Bei etwa vier Grad Celsius fegt ein eiskalter Wind über die Meseta. Nach wenigen Metern muss ich Halt machen, um eine lange Hose, Fliess-Pullover und Jacke anzuziehen. Es ist bitter kalt.
Die Strecke über Ledigos, Terradillos de Templarios, Moratinos, San Nicolás, Sahagún nach Berciano del Real Camino ist wieder sehr eintönig. Der Weg führt über flaches Land immer neben der Straße entlang, wenngleich mir selten ein Auto begegnet. Heute habe ich einen Blick für Abwechslungen und Zeichen, die mir der Weg gibt. Ich bewundere die Vorratsspeicher, die von Menschen in der heißen Hochebene schon vor langer Zeit angelegt worden sind, und bin beeindruckt von den Lehmbauten, die den Ortschaften ihre sonnengelbe Färbung verleihen.
Auf dem Weg finde ich eine Postkarte, die jemand unter einen Stein gelegt hat. Das aufgedruckte Motto: „Jede Begegnung gibt Dir die Chance, Deinen eigenen Weg zu gehen.“ begleitet mich den ganzen Tag über. Auf der Rückseite hat eine Verena sich von ihrem Camino-Freund verabschiedet. Offensichtlich hat sie ihn sehr lieb gewonnen, der Abschied fällt ihr schwer. Meine Gedanken wandern zu meinen eigenen Abschieden und Verlusten. Der anfängliche Schmerz, den ich so sehr gerne vermieden hätte, hat am Ende doch immer wieder der Zuversicht und der Freude Platz gemacht. Und auch wenn ich immer noch den Verlust der Camino-Familie betrauere, so spüre ich doch gleichzeitig die große Zufriedenheit und das Glück meines eigenen Weges.
Kurz vor Sahagún passiere ich heute die geographische Mitte zwischen St.-Jean-Pied-de-Port und Finisterre mit sehr gemischten Gefühlen. Natürlich bin ich stolz darauf, so weit gekommen zu sein. Und dennoch: Ich habe das Gefühl, dass meine Reise gerade erst beginnt, ich stehe doch noch ganz am Anfang.
Am Ortsausgang von Sahagún befindet sich die Albergue El Labriego. Es ist inzwischen wieder sehr heiß, und ich könnte eine Erfrischung gut gebrauchen. Also lege ich hier eine längere Mittagspause ein. Juan, der Hospitalero, ist ein sehr freundlicher Mensch, der mich gleich für sich einnimmt. „Muy guapa“, findet er mich und „muy sympática“. Das schmeichelt mir natürlich, nachdem ich nun mittlerweile seit sechzehn Tagen unterwegs bin, vermutlich ein wenig nach Straße müffele und meine äußerlichen Eitelkeiten zwangsläufig mit dem Übergepäck zurückgelassen habe. Bei Juan gibt es ein leckeres Gemüsegericht so ganz nach meinem Geschmack. Drinnen in der Bar ist es schön kühl. Ein Australier und eine Kubanerin sitzen mit mir am Tresen. Ich empfehle das Essen, wir kommen ins Gespräch. Die Kubanerin unterrichtet unter anderem Philosophie an der Universität. Juan versucht mich zum Bleiben zu überreden, aber ich möchte weiter nach Berciano del Real Camino. Zum Abschied umarmt er mich. Das Rasierwasser rieche ich noch ein paar Stunden lang. Es zaubert mir ein Dauerlächeln ins Gesicht.
Bis Berciano sind es noch elf bis zwölf Kilometer. Es gäbe auch eine schönere Nebenroute über Calzada del Coto und Calzadilla de los Hermanillos. Ein Blick auf die Streckenführung lässt mich aber schnell entscheiden, den Hauptweg zu gehen. Auf der Nebenstrecke müsste ich noch einmal achtzehn Kilometer ohne Wasserstelle oder einen Ort zurücklegen. Das geb ich mir heute nicht.
Gegen halb drei Uhr am Nachmittag komme ich in Berciano del Real Camino an. Die kleine private Herberge Santa Clara ist nicht das, was ich mir versprochen hatte. Aber ich habe heute keine Wahl. Es gibt einen kleinen Laden, in dem ich mir ein wenig Gemüse und Brot kaufe. Eine Gruppe italienischer Pilger hat die Küche gekapert, also mache ich mir draußen am Tisch einen einfachen Salat zurecht. Zu mir gesellt sich Tanja, eine junge Frau aus der Ukraine. Sehr nett! Anscheinend war sie gestern schon mit mir in der Herberge, sagt sie. Ich kann mich nicht erinnern. Wir erzählen den ganzen Abend. Sie hat sich jahrelang um ihr Kind gekümmert und fand, dass sie jetzt mal eine Pause benötigt. Mann und Kind sind zu Hause. Sie tut jetzt mal was für sich. Beide genießen wir den Verzicht auf die vielen gewohnten Dinge. Wir tauschen uns aus über das Glück, das du auf dem Weg über die ganz einfachen Dinge erfährst: das Gehen, ein Platz zum Schlafen, eine Dusche, ein Bett, eine Mahlzeit. Alles andere wird so unwichtig.
Seit ich weiß, dass ich die erste Hälfte des Weges bereits hinter mir habe, beginne ich wieder über meinen Alltag zu Hause nachzudenken. Die Frage, wie ich mir das Gehen zu Hause bewahren kann, treibt mich um. Ich möchte am liebsten gar nichts anderes mehr tun, als unterwegs sein. Es macht mich einfach unendlich glücklich. Wie lässt sich das bloß im Alltag gestalten? – Mal sehen, ob der Weg eine Antwort für mich bereithält.