Von Espalion nach Massip

Manche Tage auf dem Camino beginnen unspektakulär. Du wachst auf, es hält Dich nichts mehr im Bett, weil Du einfach weiter möchtest. Du stehst auf, machst Dich fertig und gehst los. Manchmal weckt Dich ein Ereignis. So wie heute. Ich wache auf von der Bewegung im benachbarten oberen Stockbett. Wir sind zu dritt. Sandrine schläft im benachbarten unteren Bett, über ihr reckt sich ihr Mann Bertrand in Richtung Fenster. Ich schlage die Augen auf. Er schaut mich an, hält die geöffnete Handmuschel ans Ohr und legt den Zeigefinger über den Mund. Und da höre ich es auch. Offenbar wird gerade eine Herde Kühe durchs Dorf getrieben. Glocken bimmeln, Menschen rufen, Herdengetrappel. Bis ich in den Schuhen stehe, werden sie wohl schon durch sein. Schade eigentlich.

Ich bin im Camino-Rhythmus. Kurze Morgentoilette, Rucksack packen, Schuhe an. Eine knappe halbe Stunde nach dem Aufwachen stehe ich schon vor der Herbergstür und gehe über die mittelalterliche Brücke direkt auf die nächste Bäckerei zu. Chocolatine und Kaffee. Ich bin heute morgen die erste und die Kaffeemaschine ist noch nicht richtig aufgeheizt. Ein bisschen zu kalt, der Kaffee. Aber so ist das halt an einem Sonntagmorgen um halb sieben irgendwo mitten in Frankreich.

Der Weg führt mich am Lot entlang bis zur Kirche Saint-Pierre-de Bessuéjouls. Im Morgennebel wirkt der Ort beinahe ein wenig verwunschen. Zutritt zur Kirche verschafft der Pilgerin ein schwarzer Klingelknopf. Zum Hochaltar gelangt man über eine steile Treppe mit unregelmäßigen Stufen. Die Taschenlampe meines Handys leuchtet den Weg.

Im Ort selbst sind Pilger willkommen, was ich aus dem Umstand schließe, dass man die äußerst gepflegte Toilette des Gemeindesaals geöffnet hat. Danach beginnt der erste Aufstieg.

Heute ist der Tag der Begegnungen mit Einheimischen. Als erstes treffe ich einen Bauern, der mich freundlich zurückgrüßt und direkt das Gespräch eröffnet. Er hat mal Physik und Chemie studiert, bevor er nach dem plötzlichen Tod des Vaters den Hof übernehmen musste. Der Hof ist seine Herzensangelegenheit. Er züchtet Angus-Rinder. Veganer mag er nicht, weil die gegen die Milchbauern sind. Er zeigt über die Hügel und Weidelandschaften. Ohne die Rinder sähe das Land nicht so kultiviert aus. Es scheint ihn zu freuen, dass er sich mit der Deutschen unterhalten kann. Er hält viel von meinen Landsleuten. Die machen ihre Arbeit, meint er, und streiken nicht dauernd. Ein Stück weiter eine ähnliche Ansage. Ein Anwohner einer kleinen Siedlung verwickelt mich in ein Gespräch. Nachdem ich ihm sage, wo ich ursprünglich herkomme, verbindet er gleich eine Automarke damit. Das ist der Einstieg. Er sagt, die Franzosen diskutieren zuviel über Hierarchien und Prozesse, die Deutschen packen eher zu. Und: Er findet es bewundernswert, wie unser Land immer wieder aus dem Nichts und der völligen Finsterniss auferstanden ist. Ich bin immer wieder erstaunt, wie positiv unser Land von außen gesehen wird.

Bald schon erreiche ich Estaing mit dem Schloss derer von Estaing. Und was ich bisher noch gar nicht wirklich erfasst hatte: Natürlich gehörte es dem früheren gleichnamigen Präsidenten. Ach so. Na klar!

Estaing schenkt mir eine Limo und Kaffeepause mit Richard, Christine und Gené. Wir tanken noch einmal Kraft, bevor es wieder steil bergauf geht in der Mittagssonne. Von 320 auf 650 Meter über eine Distanz von knapp drei Kilometern. Der Tag will, so scheint es, überhaupt nicht mehr enden.

Fast oben, begegne ich an einem Pausenplatz einer Französin, die mit einem Anhänger ihren Weg von den Französischen Alpen bis hierher gegangen ist. Sie zieht ihn mit einer Art Eselsgeschirr hinter sich her, der Aufbau wirkt ein bisschen wild und ungeplant. Ein halbes Jahr Auszeit hat sie sich genommen, erzählt sie mir. Wo sie genau hin möchte, ist offen. Sie hat kein klares Ziel außer wohl dem, dass sich offenbar irgendetwas ändern muss. Und sie erzählt mir eine der unglaublichen Geschichten, die man immer wieder auf dem Weg hört:

Unterwegs war ihr vor einiger Zeit ihr Stockschirm vom Anhänger gefallen. Zwei (Sonne-)Tage später traf sie einen Pilger, der den Schirm als Gehstock benutzt hat. Als sie es ihm sagte, kaufte er kurzerhand einen Stock und gab ihr den Schirm wieder zurück. Und sie freut sich noch heute, dass ihr Schirm jemandem nützlich war, während sie ihn gar nicht gebraucht hat.

Während für den Nachmittag Gewitter angesagt sind und der Himmel sich rasend schnell verdunkelt, beeile ich mich weiterzukommen. Gegen fünfzehn Uhr erreiche ich den kurz vor Golinhac gelegenen Hof mit der Gîte d’étape l’Orée du Chemin von Stephan Dissac. Es ist ein wunderschöner Platz mit einer großen Wiese und einem riesigen Gemeinschaftsraum. An der Tür, ganz üblich für die Via Podiensis, steht eine Tafel, auf der jeder Neuankömmling zu seinem Bett gelotst wird. Die meisten Herbergswirte gehen tagsüber einer geregelten Arbeit nach und lassen die Tür für die Pilger einfach offen, so dass man sich schon mal einrichten kann. Im Gemeinschaftsraum gibt es eine große Sitzecke und einen Kühlschrank mit Getränken.

Stephan und seine Frau kochen am Abend für uns hungrige Pilger ein Drei-Gänge-Menü mit eigenen Produkten. Er nimmt sich viel Zeit, um Fragen zu seinem Angebot zu beantworten. Man spürt die Begeisterung, mit der er sein Essen zubereitet. Dieser Ort atmet das Glück derer, die ihre Arbeit zu einer Herzensangelegenheit gemacht haben. Ein weiteres Goldstück unter den vielen, die ich in meinem Camino-Schatz mit nach Hause nehmen kann. Reisen erschließt eben immer neue Horizonte.

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