Von Saint-Chély-d’Aubrac nach Espalion

Nach etwa zwei Stunden Schlaf scheint die Nacht in dem Viererzimmer zu Ende. Aus einer Ecke schnarcht es lautstark und ununterbrochen. Ich frage mich, wie eine so zarte Person im Schlaf solche Geräusche erzeugen kann. Meine Ohrstöpsel, jedenfalls, schotten mich diesmal nicht gegen das Schnarchen ab. Irgendwann dreht sie sich um, und dann ist endlich Ruhe. Aber da habe ich bereits seit ungefähr zwei Stunden wach gelegen. Entsprechend missmutig stehe ich am Morgen auf und beeile mich, meine Sachen zu packen.

Wegen des starken Gewitters am Nachmittag hängen die Trockengestelle voller Wäsche. Natürlich ist alles klamm. Selbst die Sachen, die wir gestern sogar noch in den Heizungsraum hängen konnten, haben es nicht geschafft. Es ist noch kühl heute früh, Saint-Chély schläft noch und träumt von Rindern, die auf die Weide getrieben werden. Die Transhumanz-Festivitäten sind im vollen Gange.

Hinter Saint-Chély geht es erst einmal ein wenig bergauf, bevor man dann einen langen Abstieg ins Lottal hat. Saint-Côme-d’Olt ist auf einer Strecke von siebzehn Kilometern ein Abstieg von 865 Höhenmetern zu bewältigen. Der Ort ist wohl, wenn ich meinem Reiseführer glauben darf, einer der schönsten Frankreichs. Eigentlich hatte ich geplant dort zu bleiben und auch bereits ein Bett in einer Herberge im historischen Ortskern reserviert. Doch ich bin bereits um die Mittagszeit dort, die Herberge öffnet erst um 15 Uhr und ich möchte mir eine 34 Kilometer lange Strecke morgen gerne verkürzen, zumal dann wieder heftige Anstiege anstehen.

Ich entscheide mich, in Saint-Côme eine Mittagspause zu machen. Die Schweizerin Esther sitzt auch bereits dort beim Mittagessen. Ich gönne mir eine Aligot, Kartoffelbrei mit reichlich Knoblauch und Käse. Zwei Kanadierinnen belegen den Tisch neben mir. Das anfangs nette Gespräch entwickelt sich nach einer Weile zu einer eher lästigen Unterhaltung, weil eine der beiden sich in einem fort über die angeblich so unhygienischen Verhältnisse in Frankreich auslässt. Das Essen schmeckt ihr auch nicht. Überhaupt hat sie eigentlich für nichts etwas Positives übrig. Belgien hat sie auch schon bereist, findet das Land aber furchtbar langweilig. Man fragt sich, ob sie nicht in Kanada besser dran wäre. Ihrer Freundin scheint es auch ein wenig unangenehm. Ich versuche, das negative Urteil über Europa so wenig persönlich wie möglich zu nehmen; schließlich hat ja jeder mal einen schlechten Tag.

Hinter Saint-Côme will der Weg auf den letzten acht Kilometern noch einmal zweihundert Meter in die Höhe klettern, von wo aus der Wanderführer einen wunderschönen Ausblick über das Lottal, den Blick in den Schlot des erloschenen Vulkans Puech de Vermus und die beeindruckende Perserkirche verspricht. Mit reichlich Aligot im Bauch und einem momentan durchblutungsfordernden Verdauungssystem bin ich mental abgestumpft gegen die Erwartung von schönen Aussichten. Ich bleibe für den Rest des Weges schön unten am Fluss – Aussicht hin oder her – und erreiche ohne größere Anstrengung schließlich das wunderschöne Städtchen Espalion und meine Unterkunft für heute „La Halte Saint Jacques„. Die Herberge liegt direkt am Pnt Vieux, der alten Brücke über den Lot, die von der UNESCO in die Liste der Weltkulturerbe aufgenommen worden ist.

Zum allerersten Mal gibt es hier die altbekannten Stockbetten in allerdings kleinen Einheiten. In meinem Schlafsal haben sechs Pilger Platz, für den Moment bin ich aber noch allein und habe die volle Auswahl. Ich beeile mich mit der üblichen „Menage“ nach einem Pilgertag, weil ich mir den Ort anschauen möchte, aber auch, weil es hier am Ort einen Outdoorladen gibt. Seit einigen Tagen trage ich mich mit dem Gedanken, ein paar alte Klamotten zurückzulassen, die ich wegen der Hitze nicht länger im Rucksack herumtragen möchte. Einen alten abgeschabten Fleecepullover und eine lange Hose, die an den Beinen schon ein wenig löcherig wird, werden dran glauben müssen. Es fällt mir ein bisschen schwer, weil sie mir all die Jahre gute Dienste geleistet haben. Aber nach Hause schicken kommt nicht in Frage, weil es ein halbes Vermögen kostet und ich mir dafür genauso gut was Neues kaufen kann.

Das Angebot im Outdoorladen ist nicht besonders üppig. Aber immerhin erstehe ich ein leichtes T-Shirt und Shorts. Danach besorge ich mir noch zwi Vollkornbaguettes beim Bäcker, die allerdings – so leicht und fluffig sie auch ausgesehen haben – mörderschwer sind. Eines davon schenke ich einem Pilger aus Ungarn, dem ich seit Saint-Alban-sur-Limagnole immer wieder begegne. Er wirkte anfangs immer so ernst und abweisend, aber jetzt taut er auf. Und nachdem ich nun weiß, dass seine Außenwirkung in allererster Linie dem fehlenden Sprachschatz zuzuschreiben ist, mag ich ihn eigentlich ganz gerne.

Auf meinem Gang durch die Stadt verdunkelt sich der Himmel allmählich, Wind zieht auf und kündigt das übliche Nachmittagsgewitter an. Ich flüchte mich vor den ersten Tropfen in das nächstbeste Café und warte das Ende bei einer Grenadine ab. Am Nachbartisch sitzt eine ältere Frau mit Sohn und Enkelkindern und schaut immer wieder lächelnd zu mir herüber. Als sie gehen, flüstert sie mir zu, dass das Wetter morgen wieder schön sein wird. Ich frage, ob sie auch pilgert. Da zeigt sie auf ihren Kettenanhänger: eine Jakobsmuschel. Und strahlt. So ist das auf dem Weg. Man erkennt sich und ist sofort miteinander verbunden.

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