Ich schlage die Augen auf und sehe erst einmal … nichts. Irgendein Handy-Wecker klingelt vor sich hin. Blind taste ich mich an meine Stirnlampe, die ich am Abend zuvor immer irgendwo griffbereit am Bett befestige. Es gibt keinerlei Lichteinfall. Erst viel später stelle ich fest, dass irgendjemand das Rollo des Dachfensters zugezogen hat. Der ganze Raum ist abgeschirmt gegen Licht. Eine Erkenntnis bringt es mir: Die Reißverschluss-Lasche meines Schlafsacks ist wohl mit fluoreszierender Farbe ausgestattet. Nice, wie man auf Neudeutsch sagt.
Ich nehme die Stirnlampe in die hohle Hand, um mir den Weg zum Badezimmer zu leuchten. Anscheined trifft der Strahl eine Pilgerin direkt ins Auge. Sie wird sich – und mich – Tage später daran erinnern. Ich fühle mich nicht schuldig, auch wenn es mir natürlich leid tut. Es war nicht mein Wecker und ich habe auch nicht für absolute Dunkelheit gesorgt. Ohnehin stelle ich mir auf Pilgerwegen nie den Wecker. Meine Mitschläfer:innen sorgen schon dafür dass ich beizeiten wach werde.
Um sieben Uhr bin ich heute auf der Straße. Eigentlich viel zu früh, denn die Herberge im nur knapp siebzehn Kilometer entfernten Saint-Chély-d’Aubrac öffnet erst um 14 Uhr. Aber ich habe den Weg über die magisch schöne Hochebene ganz allein für mich und genieße die Weite und das Alleinsein bis genau zu dem Moment, als ich Zeugin eines Naturschauspiels werde, das sich etwa zweihundert Meter vor mir scheinbar mitten auf dem Weg ereignet. Ein Bulle vergnügt sich dort fröhlich mit einer Kuh. Mein Guidebook weiß dazu zu berichten, dass Bullen im Aubrac von der Beschäftigung mit ihrer weiblichen Entourage viel zu erschöpft sind, um Menschen anzugreifen. Der aus dem Allgäu stammende Übersetzer des „Miam Miam Dodo“ muss es allerdings auch schon anders erlebt haben, denn er schreibt, man solle sich darauf nicht unbedingt verlassen. Da im Allgäu bekanntermaßen auch viele Rinder leben, gibt es für mich keinen Grund, an der Expertise des Übersetzers zu zweifeln.
Verunsichert verlangsame ich meinen Schritt und bin augenblicklich gar nicht mehr froh darüber, dass ich hier oben heute früh noch allein bin. Ich erwäge tatsächlich zu warten, bis mich die Pilgerschar aus Nasbinals eingeholt hat. Dennoch setze ich zögerlich meinen Weg fort. Was ein Glück ist, denn irgendwann stelle ich fest, dass ich einer optischen Täuschung erlegen bin. Die beiden tierischen Akteure befinden sich nämlich gar nicht mitten auf dem Weg, sondern sicher hinter einer Steinmauer. Oder besser gesagt: Ich bin sicher auf der anderen Seite der Mauer.
Anscheinend war die Gegend im Mittelalter auch bereits ein gefährliches Pflaster, aber nicht wegen der Rinder. Wo heute baumloses Weideland ist, gab es früher dichten Wald, in dem sich allerhand missgünstiges Gesindel herumtrieb. Dies und heftige Schneestürme waren eine große Bedrohung für die Pilger und nicht wenige waren hier dem Tode geweiht. Das um 1120 in Aubrac gegründete Hospiz Notre-Dame-des-Pauvres war Aufnahmestation für erkrankte und verletzte Pilger.
Ich hingegen erreiche Aubrac bei bester Gesundheit und gönne mir erst einmal eine Jausenzeit auf einer Bank und anschließend einen Kaffee im Touristenzentrum. Danach setze ich meinen Weg durch den kleinen, sehr überschaubaren Ort fort. Hier sind unglaublich viele Leute auf den Beinen. Und die Campingwagen sind außerhalb der Ortschaft bereits in Position gestellt. Das Viehtreiben, das dieses Wochenende seinen Höhepunkt hat, lockt jede Menge Touristen an. Auf der Landstraße quälen sich die Camper dicht aneinander vorbei, einer davon touchiert mich fast am Ellbogen; ich bin froh, als ich endlich auf den Trampelpfad, der nach Saint-Chély hinunter führt, abbiegen kann.
Der Hohlweg nach Saint-Chély hinunter zieht sich, dennoch bin ich um zwölf Uhr mittags bereits unten, dicht gefolgt von Rubén, der heute noch weiter möchte nach Saint-Côme-d’Olt. Das sind weitere siebzehn Kilometer, im wesentlichen bergab. Da für heute Nachmittag wieder schwere Gewitter angekündigt sind, schenke ich mir das. Wir essen gemeinsam zu Mittag und verabschieden uns ein weiteres Mal für immer. Man weiß ja nie.
Saint-Chély-d’Aubrac ist geschmückt für die Festivitäten rund um den Viehtrieb, von gegenüber aus dem Rathaus ertönt laute Musik. Das Band hängt, was aber niemand zu kümmern scheint.
Ich übernachte heute im Gîte Chez Fanny et Jérémy. Die beiden führen auch den hiesigen Campingplatz. Pünktlich um 14 Uhr wird aufgemacht. Duschen, Bett beziehen, Wäsche waschen. Die tägliche Routine des Pilgerlebens.
Kaum hängt meine Wäsche auf der Leine, zieht Wind auf. Dann folgt auch schon der unvermeidliche Wolkenbruch, der unzählige Pilger erwischt, die noch auf dem Weg sind. Am Ende hängt die triefnasse Wäsche von etwa zwanzig Pilgern auf klapprigen Ständern. Der Wäschetrockner ist kaputt. Der Raum dampft. Aber es gibt noch einen Heizraum, der zumindest hoffen lässt, dass ein paar Sachen bis morgen vielleicht doch schon angetrocknet sind.
Später im Ort treffe ich Franck und noch zwei weitere Pilger, die mit Zelt unterwegs sind. Der Campingplatz steht unter Wasser. Aber im Ort, gegenüber des Hotels, gibt es eine Pilgernotunterkunft. Eine alte überdachte Viehwaage, die ein wenig an eine Bushaltestelle erinnert. Irgendjemand hängt aus Jux ein Schild dort auf: „Complet“ („Belegt“). Es ist Francks Geburtstag, er gibt eine Runde aus. Wir sitzen, reden und lachen. Und erst Tage später wird mir bewusst, dass wir uns wohl nicht wiedersehen werden. Aber bis heute sind sie noch in meinem Herzen. Und es erstaunt mich immer wieder aufs Neue, wie sehr ich mit wildfremden Menschen auf dem Weg verbunden bin.
Das ist für mich eines der größten Wunder des Weges.








