Die Nacht in der Herberge von Laurence abseits des Weges war ruhig. Die jungen Leute, die gerade ein Praktikum in einer Eisenschmiede machen und ebenfalls in dieser Herberge einquartiert sind, waren am Abend sichtlich zu erschöpft, um noch lange Party zu machen. Sie waren wirklich mucksmäuschenstill. Als ich am Morgen die Augen aufschlage, bin ich in erster Linie überrascht, dass ich durchgeschlafen habe.
Laurence stellt mir zum Frühstück selbstgemachte Marmelade aus Hagebutten und diverse andere Gläser mit Selbsteingekochtem hin. Die Sorte Gratte-Cul – zu Deutsch: „Arschkratzer“ – wie man hier die roten Wildfrüchte nennt – hat es mir angetan. Keine halbe Stunde später sitze ich schon wieder im schwarzen Geländewagen und weitere zehn Minuten später stehe ich, wieder zurück auf dem „Chemin“, in dem kleinen Ort Aumont-Aubrac am Straßenrand. Vor der Bäckerei wartet schon eine kleine Pilgerschlange geduldig auf Kaffee und Croissant. Ich wage es, ohne einen Einkauf weiterzuziehen; schließlich ist das hier keine Vía de la Plata. Man muss nicht befürchen, unterwegs in der Sommerhitze hungrig zusammenzubrechen und dahinzusiechen. Aber so ganz habe ich mein Eichhörnchenverhalten aus dem vergangenen Jahr noch nicht abgelegt.
Den ganzen Tag über kann ich mich kaum sattsehen an der wunderschönen Landschaft. Anfangs noch in Nadelgehölz eingerahmte Trampelpfade, die mich an den Schwarzwald erinnern, öffnet sich die Landschaft ab Quatre-Vents in die unendliche Weite des Hochlandes mit seinen kargen Wiesen, die mit Granitstein-Mauern eingefasst sind. Dazwischen widerkäuen Rinder in bewundernswertem Gleichmut. Die Rasse der Aubrac-Rinder mit ihrem goldbraunen Fell und den geschwungenen Hörnern ist nicht nur besonders schön, sondern auch sehr robust.
Pilger in früheren Zeiten empfanden das karge Hochplateau als eine Art Hölle und waren froh, wenn Sie nach gut anderthalb Tagen nach Saint-Chély-d’Aubrac hinunter steigen konnten. Für mich ist dieses Plateau der Himmel auf Erden. Aber ich muss auch nicht Wind, Kälte und Schnee trotzen. Im Winter und während der Herbststürme war – und ist – die Überquerung des Aubrac mit Sicherheit kein Zuckerschlecken. Wenn die Burons nicht bewirtschaftet und die Kühe wieder in die Ställe im Tal gezogen sind, mag die karge Romantik eher wie eine ewige Verdammnis wirken.
Aber heute ist das Wetter gnädig. Es ist um die zwanzig Grad, die Sonne lugt zwischen den Wolken hervor und dann und wann verdunkelt sich der Himmel und schickt schwarze Wolken. Aber es ist und bleibt trocken und außer einem lauen Lüftchen gibt es keine Bewegung in der Luft.
Der Viehbetrieb auf der Hochweide diente in früheren Zeiten zur willkommenen Pilgerspeisung in der kargen Landschaft. Bislang haben es erst wenige Rinder hier herauf auf die Weide geschafft. In wenigen Tagen werden sehr viel mehr Vierbeiner die Wiesen bevölkern. Die Transhumanz, der Viehtrieb aus dem Tal, beginnt am Wochenende und ist ein Spektakel, das Franzosen aus dem ganzen Land anlockt und Anlass für Volksfeste in den tiefer gelegenen Dörfern ist.
Trotz des wunderschönen Weitblicks bin ich heute aus unerfindlichen Gründen etwas kurznervig. Dazu mag immer noch beitragen, dass ich gestern wegen der Übernachtung abseits des Weges aus der sich gerade formenden Pilgergemeinschaft jäh herausgerissen wurde. Heute begegne ich unterwegs zwar immer mal wieder Pilgern, aber ich kenne niemanden davon. Nur mein bekannter Schatten läuft mir zuverlässig voraus und gibt die Richtung vor.
Erst in Montgros treffe ich unverhofft an einem Standup-Kiosk Rubén. Bei Linsensuppe und einem Kuchen mit Kaffee finde ich wieder Anschluss an meine Community. Der Mann aus Puerto Rico aber hat es eilig und so unterhalte ich mich noch eine Weile mit den Kioskbetreibern, die Deutschland ganz gut kennen, bevor ich die Schuhe für die letzten drei Kilometer schnüre.
Nasbinals ist wirtschaftliches Zentrum des Aubrac. Der etwas über 500 Einwohner zählende Ort bietet neben der stattlichen Kirche Notre-Dame-de-la-Carce alles, was das Pilgerherz höherschlagen lässt: jede Menge Wanderunterkünfte und sogar zwei Hotels, eine Bar und Restaurant, eine Bäckerei, einen Lebensmittelladen mit für den Wanderer abgepackten Kleinstmengen und vorbereitetem Essen zum Aufwärmen. Nasbinals lebt von seinen Gästen. Nicht nur von den durchziehenden Wanderern und Pilgern während der warmen Monate, sondern auch von Skitouristen im Winter.
Auf der Place de la Mairie gönne ich mir in der Bar gerade ein abendliches Zischgetränk, als sich Franck mit seinem Hund Raffia zu mir gesellt. Die beiden mussten einen Umweg in Kauf nehmen, weil das Führen von Hunden wegen der Viehwirtschaft auf dem Plateau nicht erlaubt ist. Man stelle sich das einmal in Deutschland vor!
Ich bin für heute im Gîte d’étape privé La Grappière von Marjori Buffière untergekommen. Das Haus steht offen, man darf sich einfach einquartieren, sofern man angemeldet ist. Wie so viele andere Gîte-Betreiber arbeitet Marjori tagsüber und kommt erst abends, um nach dem Rechten zu sehen und das Frühstück für den nächsten Morgen vorzubereiten. Hinter der Eingangstür wartet ein Decathlon-Paket auf eine Pilgerin. Soviel für diejenigen, die daran zweifeln, dass man selbst in entlegenen Gebieten auf Pilgerreisen nicht vollkommen verratzt ist, wenn es an Ausrüstung fehlt.
Es gibt immer einen Weg.









