In der Regel ist man auf Pilgerwegen im Süden Europas in den Sommermonaten beizeiten unterwegs, um möglichst der Sommerhitze zu entgehen und auch – zumindest trifft das auf mich zu – weil der Körper nach einer Nacht im Schlafsaal, den man mit vielen Pilgern geteilt hat, einfach wieder aufatmen, sich strecken und Raum greifen möchte. Aber es gibt Ausnahmen. Heute ist so ein Ausnahmetag. Ich hatte ein Doppelzimmer für mich allein, die Temperatur ist gerade richtig zum Wandern und es steht nur ein Weg von fünfzehn Kilometern an. Nach einem ausgiebigen Frühstück im Gîte „La Butte aux Oiseaux“ gemeinsam mit den beiden jungen Männern aus Deutschland, Florian und Roberto, und zwei Französinnen und einem weiteren angeregten Gespräch mit Eric, mache ich mich langsam auf den Weg.
Nach dem ersten Anstieg werfe ich noch einmal einen Blick auf den merkwürdigen Ort Saint-Alban-sur-Limagnole mit seiner dem Verfall geweihten riesenhaften psychiatrischen Klinik. Es gibt Orte, da möchte man nicht begraben sein.
Die Landschaft wechselt ganz langsam ihr Gesicht, weißes Granitgestein hat die rote Erde ersetzt. Ansonsten überziehen grüne Wiesen, dunkelgrüne Nadelgehölze und gelber Ginster die Erde, dazwischen recken sich Margeriten dem Licht entgegen.
Am Ende des Weilers Chabanes-Planes gibt es einen Bauernhof mit angeschlossener Gastronomie. John aus Neuseeland, ein weit über siebzigjähriger drahtiger Pilger hat auf ein gekochtes Ei gehofft. Anscheinend legen die Hühner aber gerade nicht. Kaffee gibt es auch nicht, maximal ein Getränk aus dem Automaten. Ich darf mich setzen und mich ein wenig ausruhen, bevor ich im Schlendergang weitergehe über Les Estrets und Bigose nach Aumont-Aubrac.
Es ist gerade Mittag, als ich dort ankomme. Weil ich heute kein Bett im Ort selbst organisieren konnte, muss ich warten, bis mich Laurence, meine Gastgeberin für die Nacht mit dem Auto abholt, um mich zum Gîte „Le Buron St. Jacques“ ins drei Kilometer entfernte Peyre en Aubrac mitzunehmen. Ich könnte auch zu Fuß gehen, aber ein Großteil der Strecke scheint an der Nationalstraße entlang zu führen. Laurance scheint ohnehin von der Arbeit zu kommen; es macht für sie also keine Umstände. Am Telefon hat sie mir gesagt, dass sie nicht vor 16 Uhr kommen kann. Ich steuere also das erste Restaurant an, um meine Salatphantasien, die ich den Tag über genährt habe, zu befriedigen.
Später treffe ich im Ort die beiden Deutschen und noch einige andere Pilger, will eigentich noch einen Stempel an der Kirche abholen und in den Supermarkt, um dann in Gesellschaft noch einen Kaffee zu trinken, da bekomme ich von Laurence eine SMS. Sie kann in fünf Minuten da sein, also mehr als eine Stunde vor dem verabredeten Termin. Es passt mir eigentlich gar nicht, dass ich so jäh aus meiner Pilgergemeinschaft herausgerissen werde; aber ich finde es unangebracht, das abzulehnen.
Laurence fährt mit einem schwarzen Geländewagen mit Pferdeanhänger vor. Zwei größere Hunde recken mir neugierig, aber friedlich ihre Schnauzen entgegen. Ich werfe meinen Rucksack zu dem anderen Gerümpel auf dem Rücksitz, ziehe die Tür zu, und ab gehts im Affentempo raus aus dem Ort, auf die Nationalstraße. Ich fühle mich regelrecht gekidnappt und denke mit Wehmut an die anderen, die im Ort eine schöne Zeit vor sich haben. Das Auto ein wenig messy, die Unterkunft im schönen Natursteinhaus auch auf den ersten Blick. Laurence hat nicht viel Zeit für mich, eröffnet mir noch, dass sie ein paar junge Leute beherbergt, die tagsüber in einer berufsvorbereitenden Schule sind. Dann ist sie erstmal verschwunden.
Ich schaue mich um. Mein Blick wandert über den riesigen Gemeinschaftsraum und einige Flaschen Alkohol: Ricard, Tequila, eine leere Flasche Jack Daniels, leere Bierdosen. Schuhe liegen verstreut auf dem Boden. Ein bisschen „bordel“, nicht gerade sehr sauber, eher bewohnt sauber. Ich fühle mich gefangen an einem Ort, an dem ich eigentlich gerade nicht sein möchte. Immerhin: Ich habe ein Zimmer für mich und wohl auch noch ein wenig Zeit, bevor die Jugendlichen zurückkomen und dusche erst einmal ausgiebig. Dann brauche ich eine kleine Flucht und entdecke, dass es fußläufig erreichbar einen Casino Hypermarché gibt. Ich mache mich also auf den Weg, um mir ein wenig Obst und ein Zischgetränk zu besorgen. Und auch, um mich ein wenig von meiner Trauer und dem Gefühl von Fremdsein zu entfernen.
Der Casino ist ungefähr anderthalb Kilometer entfernt. Als ich auf dem Rückweg bin, liegt auf meiner Straßenseite ein Auto im Graben. Zwei Männer, vielleicht Vater und Sohn, sichern die Unfallstelle, der Sohn telefoniert. Der Unfall muss sich kurz zuvor ereignet haben. Ich frage, ob ich helfen kann. Aber zum Glück ist niemand verletzt. Das Auto, selbst wenn es nicht im Graben feststecken würde, wirkt nicht mehr fahrtüchtig. Der ältere der beiden berichtet, dass ein entgegenkommendes Auto sie touchiert hätte, der Fahrer flüchtig. Der Abschleppwagen sei schon unterwegs. Mich schaudert bei dem Gedanken, dass ich kurz zuvor dort zu Fuß unterwegs war.
Am frühen Abend erweist sich Laurence dann doch noch als aufmerksame und nette Gastgeberin. Sie macht mir Feuer im Holzofen, nicht weil es so kalt ist, sondern weil es eine schöne Atmosphäre macht. Sie ist außerdem eine ganz begnadete Köchin und bereitet mir ein Drei-Gänge-Menü zu: Salat mit Wildkräutern, Truffade – ein Kartoffelgericht mit jeder Menge Tome-Käse, und hausgemachte Crème Brûlée. Die jungen Leute treffen auch irgendwann ein, hundemüde, weil sie den ganzen Tag in der Schmiede gestanden haben. Meine Befürchtung, dass die Party am Abend erst richtig los geht, erweist sich darum als unbegründet.
Den Abend studiere ich das Prospektmaterial über die Region, das im Regal ausliegt. Im Aubrac treffen sich die drei Départements Cantal, Lozère und Aveyron. Im Naturpark des Aubrac leben 30.000 Menschen auf 2.200 Quadratkilometer Fläche. Ich könnte mir vorstellen, dass mindestens genauso viele Rinder hier heimisch sind. Zwei Drittel der Fläche des Regionalparks sind Weideland. Und neben den berühmten Aubrac-Rindern kann man auch euroäischen Bisons im Reservat begegnen.
Morgen sind keine großen Höhenunterschiede zu erwarten. Der Weg führt über das Hochplateau des Aubrac, auf weitem Weideland. Ich freue mich auf weite Aussichten.







